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Kapitel 3

700 Haie IN DER NACHT

Faszinierende Begegnungen im Pazifik.

Autoren der Kapitel

LAURENT BALLESTA

Autoren der Kapitel

LAURENT BALLESTA
700 Haie IN DER NACHT
700 Haie IN DER NACHT
Ausgabe 19 Kapitel 3
 Cédric ruht auf dem Boden, da der Tauchgang schon seit einigen Stunden andauert. Bei jedem Tauchgang schwimmt er ein paar Meter über mir, kämpft gegen die Strömung und hält das schwere Gerüst, das speziell für meine Blitzlichtgeräte entwickelt wurde, die durch ein Kabel mit meiner Kamera verbunden sind.

Cédric ruht auf dem Boden, da der Tauchgang schon seit einigen Stunden andauert. Bei jedem Tauchgang schwimmt er ein paar Meter über mir, kämpft gegen die Strömung und hält das schwere Gerüst, das speziell für meine Blitzlichtgeräte entwickelt wurde, die durch ein Kabel mit meiner Kamera verbunden sind.

Ich träume davon, frei von ATEMSCHUTZGERÄTEN zu sein, nicht an die Oberfläche zurückkehren zu müssen und ohne Zeitdruck durch DIE UNTERWASSERWELT ZU STREIFEN.

Ich habe oft diesen Tagtraum: Wie ein Botaniker in den Wald geht oder ein Wanderer einen Berg besteigt, tauche ich in die Tiefe, ohne jegliche Bedenken wegen Luftmangel oder Dekompres­sionsunfällen. Ich träume davon, frei von Atemschutzgeräten zu sein, nicht an die Oberfläche zurückkehren zu müssen und ohne Zeitdruck durch die Unterwasserwelt zu streifen. Ich träume davon, meine Leidenschaft für das Meer einfach und grenzenlos, mit freiem Geist zu leben. Ich wünsche mir, das Tal der Haie wieder und wieder zu durchstreifen, als ob das Abenteuer von der Routine gespeist werden könnte. Ich möchte das Geheimnis dieses Orts lösen und, noch wichtiger, die Versprechen meiner Kindheit einhalten. 

Wir sind zurück im Fakarava-Atoll, und zwar in der südlichen Passage zwischen der Lagune und dem Pazifik im Tuamotu- Archipel. Es ist die vierte Expedition in Folge, die wir hier durchführen. 2014 hatte ich erstmals einen 24-Stunden-Tauchgang in 20 Metern Tiefe absolviert. Bei aller Entschlossenheit war ich insgeheim aufgeregt, weil ich befürchtete, vorschnell erschöpft zu sein und den Vorstoß abbrechen zu müssen. Ich benötigte insgesamt sechs Stunden für die Dekompressionsstopps, dies ungeachtet des hohen Anteils von 87% Helium in meinem Atemgas­gemisch. Der Stress der ersten Augenblicke ließ mich ganz einfach vergessen, wie glücklich ich war, dort zu sein. Denn der Ort ist ebenso einzigartig wie der Zeitpunkt: Die Getarnten Zackenbarsche (Epinephelus polyphekadion), sind hier ­bereits zu Tausenden versammelt, wo sich bei Einbruch der Dunkelheit Hunderte Haie auf sie stürzen werden. Ich war glücklich, sie so einen ganzen Tag und eine ganze Nacht beobachten zu können.

Während der ersten Expedition konnten wir anhand von täglichen Zählungen ermitteln, dass sich hier rund 18 000 Getarnte Zackenbarsche und 700 Grauhaie tummelten, was der bisher höchsten bekannten Dichte dieser beiden Arten entspricht. Wir wiederholten diese Erhebungen bei jeder Expedition, um die Daten der beiden Populationen zu vergleichen.

Außer in der Paarungszeit sind diese Zackenbarsche Einzelgänger, doch jetzt versammeln sie sich hier zu Tausenden, denn in wenigen Tagen werden alle gleichzeitig laichen. Das heißt alle, die es bis dahin geschafft haben, den Haien zu entkommen. Nachdem wir sie nun während Dutzenden von Stunden unter Wasser beobachtet haben, glauben wir endlich intuitiv den genauen Moment des Laichens erkennen zu können. Die letzten drei Jahre hinterließen uns ein Gefühl des „Versagens“, als seien wir zu spät gekommen und hätten den Höhepunkt verfehlt. Jetzt finde ich, wir seien endlich zur rechten Zeit bereit.

700 Haie IN DER NACHT

Die Zackenbarsche, die es bis dahin GESCHAFFT HABEN, DEN HAIEN ZU ENTKOMMEN, werden alle gleichzeitig laichen.

Inmitten ihres wilden Herumschießens sind wir für die Haie zwar HINDERNISSE, aber keine ZIELE.

Wir tauchen jede Nacht. Tagsüber bilden die Haie drei Gruppen, die wir „die Wände“ nennen. Diese bilden sich an bestimmten Nahtstellen der Hauptströmungen, und jedes Mal, wenn ein Hai die aktuelle Wand verlässt, wird er sofort durch einen andern ersetzt, ähnlich, wie sich Zugvögel in ihren V-förmigen Flugformationen ablösen. Aber nachts brechen die Haigruppen auseinander, weil die Fische dann am Grund der Südpassage patrouillieren. Beim Tauchgang von 2014 hielten wir respektvoll Abstand. Denn die Haie stürzen sich wie der Blitz auf ihre Beute und schlagen im Jagdeifer auch mal ein Korallenriff in Stücke. Ihr Tempo ist unglaublich, und als Zuschauer ist man durch das atem­beraubende Schauspiel wie gebannt und ­verfolgt es staunend, die Knie schützend hochgezogen. Der Stress ist zugege­-be­nermaßen allgegenwärtig, aber im Halbdunkel leuchten unsere Augen vor Begeisterung. 

In den vielen Tauchgängen der letzten Jahre sind wir uns irgendwie sicher geworden, nicht gebissen zu werden. Inmitten ihres wilden Herumschießens sind wir für die Haie zwar Hindernisse, aber keine Ziele. Durch dieses Wissen gestärkt, rücken wir immer näher an sie heran. Jetzt bewegen wir uns in einer Weise mitten im Rudel, wie dies im ersten Jahr undenkbar gewesen wäre.

Yannick schwimmt unter dem Schwarm der Haie. Inwieweit ist ihr Treiben organisiert oder improvisiert? Ab welchem Punkt wird es effizient, gemeinsam zu jagen? Es gibt zweifellos eine Idealzahl für ein Hairudel. Sind sie nur wenige, entkommt die Beute, sind sie zu zahlreich, fällt für den einzelnen Hai zu wenig Beute ab. An sich ist die Gruppe eine Stärke, doch wenn Teilen unmöglich ist, wird sie zum Handicap. Kann die natürliche Selektion zu einer Generation führen, die zusammenarbeitet? Dann wären die Haie in der Lage, die Gefahren eines zu starken Individualismus und eines unerbittlichen Wettbewerbs zu vermeiden.

Vor unseren Augen agiert das 700-köpfige Haifischrudel wie ein einziges gigantisches Individuum mit 700 Rachen. Umgekehrt ist ein einzelner Grauhai bei der Jagd ungeschickt und ineffizient. Seine Rettung liegt im Rudel, wenn alle ihre Aktion synchronisieren. Ich denke, man muss das alte Klischee von der unkontrollierten Raserei vergessen. Unsere Beobachtungen und Unterwasserfotografien sprechen eher für das Gegenteil. Da kann durchaus viel mehr Koordination, Organisation und Taktik im Spiel sein, als man bisher annahm.

Bei einsetzender Ebbe beenden wir unsere Tauchgänge… um Mitternacht, zwei Uhr oder auch vier Uhr morgens, immer hochgemut. Cédric ist da eher skeptisch: „Wenn sie sich gegenseitig beißen, können sie auch uns beißen, und ein unabsichtlicher Biss tut nicht weniger weh.“ Seine spontane Warnung lädt zur Vorsicht ein und schwächt meine fast zur Überzeugung gewordene Intuition, nie gebissen zu werden. Aber das wage ich kaum zu sagen…

700 Haie IN DER NACHT
 Mitten im Ballett der Grauhaie.  Wenn die Haie auf der Suche nach Beute dem Riff entlang patrouillieren, versteckt sich der blaue Nasendoktorfisch. Diese großen Rifffische sind in der Regel einheitlich gefärbt, können jedoch bei Gefahr Farbe und Muster ihrer Haut ändern.

Mitten im Ballett der Grauhaie. Wenn die Haie auf der Suche nach Beute dem Riff entlang patrouillieren, versteckt sich der blaue Nasendoktorfisch. Diese großen Rifffische sind in der Regel einheitlich gefärbt, können jedoch bei Gefahr Farbe und Muster ihrer Haut ändern.

 Während das Zackenbarschpaar nach oben schwimmt, damit das Weibchen seine Eier freisetzen kann, wird es von opportunis­tischen Männchen verfolgt, die ebenfalls ihren Samen abgeben, wodurch das Wasser in eine milchigweiße Wolke verwandelt wird. All das geschieht in weniger als einer halben Sekunde.

Während das Zackenbarschpaar nach oben schwimmt, damit das Weibchen seine Eier freisetzen kann, wird es von opportunis­tischen Männchen verfolgt, die ebenfalls ihren Samen abgeben, wodurch das Wasser in eine milchigweiße Wolke verwandelt wird. All das geschieht in weniger als einer halben Sekunde.

Endlich. Nach drei Wochen Anstrengung und Gefahren schießt DAS BEDRÄNGTE WEIBCHEN IM GEFOLGE SEINES DOMINANTEN FREIERS in die Höhe.

Dann folgt unvermittelt ein heftiger Schlag, gefolgt von einem Kribbeln, anders als die üblichen „Nasenstüber“ der Haie, die manchmal blaue Flecken hinterlassen. Ich fasse an die Unterseite meines Oberschenkels und spüre, dass der Anzug zerrissen ist. Die Wunde blutet und erfordert vier Nähte. Also doch ein Haibiss? Meine Überzeugung gerät ins Wanken… Glücklicherweise filmten zwei Kameras die Szene: Nicht der Hai, sondern ein großer Doktorfisch hat meine Haut durchtrennt, und zwar mit einer seiner beiden skalpell­artige Knochenklingen an der Schwanzflosse. Allerdings unfreiwillig: Der Grauhai hatte den Fisch gepackt und hinter meinem Bein heftig geschüttelt, um ihn zu verschlingen. Also gilt die Hypothese nach wie vor: Diese Haie beißen uns nicht.

Wir setzen die nächtlichen Tauchgänge fort, angespornt von unbeantworteten Fragen: Ändern unsere Lampen das Verhalten der Haie bei Nacht? Dass sie davon angezogen werden, ist unbestreitbar. Führt dies jedoch zu mehr Jagderfolg? Schwer zu sagen. Bei gleichen Lichtverhältnissen kann der Prädationsdruck gleich Null oder unaufhörlich sein. In erster Linie variiert er je nach Periode des Mondzyklus oder einfacher gesagt zwischen Beginn und Ende der Nacht. An manchen Stellen des Riffs jagen die Haie überhaupt nicht, auch wenn die Sicht bestens ist.

Für die Zackenbarsche herrscht hier jede Nacht Terror. Frühmorgens versuche ich, das schmerzliche Geschehen mit der Kamera zu dokumentieren: als tragische Galerie der Verletzungen und mit Porträts der Überlebenden, die von den nächt­lichen Angriffen gezeichnet sind.

Die Wunden sind tief: zerfetzte Flossen, verstümmelte Körper… Doch das hält die Zackenbarsche nicht auf. Ihre Widerstandsfähigkeit ist faszinierend. Manche Narben sind bereits einige Jahre alt, doch diese Fische scheinen sich von allem er­holen zu können, sogar von einem zerschlagenen Kiefer... Jetzt zählt einzig und allein, sich paaren zu können. Die Barsche sind nicht Herren ihres Schicksals, sondern Sklaven ihrer Instinkte.

Während des großen Laichtreffens verbrauchen die Zackenbarsche enorm viel Kraft. Die Männchen kämpfen, paradieren und werben, ohne zu fressen. Die Weibchen mit ihren von den Eiern geblähten Bäuchen behalten ihre tarnende gefleckte Körperzeichnung. Die Männchen hingegen sind jetzt einheitlich grau, bereit, sich für die Fortpflanzung zu opfern. Mit Bissen versuchen sie die Laichbereitschaft der Weibchen zu stimulieren. Bald wird man zur Sache kommen.

Endlich. Nach drei Wochen Anstrengung und Gefahren schießt das bedrängte Weibchen im Gefolge seines dominanten Freiers in die Höhe und stößt eine dicke Wolke von Eiern aus, die er sofort zu befruchten versucht. Er muss schnell handeln, um der Erste zu sein. Denn innert Sekundenschnelle sind andere Männchen zur Stelle und steuern ihren Samen bei. Nur die Bilder der Kamera zeigen uns, dass er den dreiwöchigen Kampf im Bruchteil einer Sekunde gewonnen hat. 

Wir setzen die nächtlichen Tauchgänge auch nach dem Laichen der Barsche fort. Jetzt erfolgen die Verfolgungsjagden der Haie so schnell und überraschend, dass ich sie oft erst entdecke, wenn ich am frühen Morgen meine Aufnahmen visioniere. Dann habe ich manchmal das Gefühl, diese Schnappschüsse bei Tauchgängen „erbeutet“ zu haben, die zuvor aus Vorsicht oder Unwissenheit nicht möglich waren. Manchmal verwechselt man beides.

Ich höre die Taucher unter Wasser vor Begeisterung aufschreien, WENN EINE PACKENDE JAGDSZENE FESTGEHALTEN WIRD.

Um mehr über diese Jagden zu erfahren, die uns faszinieren, haben wir eine Möglichkeit entwickelt, Fotografie und Video zu kombinieren: den „Bilderbogen“ (fr. Arche d’images). Nachdem wir die Idee für diese Konstruktion hatten, wurde sie in wenigen Monaten Realität. Die Umsetzung war zwar mühsam, kam jedoch zustande. Wie eine Science-Fiction-Vision schwebte sie durch die Gewässer des Fakarava-Atolls und lieferte noch nie dagewesene Bilder, von denen wir geträumt hatten.

Der Bilderbogen hat einen Durchmesser von 4 Metern und trägt 32 in regelmäßigen Abständen montierte kleine Kameras. Bis dahin wurde diese Technik für Spielfilme oder die Analyse spektakulärer sportlicher Leistungen eingesetzt. Das Konzept ist raffiniert: Alle Kameras machen gleichzeitig einen Schnappschuss, so dass man eine Bildsequenz in der Abfolge dieses Halbkreises erhält. Idealerweise befindet sich dabei das Bildmotiv genau in der Mitte des Bogens. Nun konnten wir nur hoffen, dass sich dieses Gerät einsetzen ließ, um die Verfolgungsjagden der Haie zu fotografieren. Nach zehntägigem Tüfteln pilotieren Antonin und Tybo den Bilderbogen virtuos und liefern perfekte Bildsequenzen. Es ist wie in einem Fantasyfilm: Der Magier stoppt die Uhr, worauf die Dinge und Menschen erstarren und er nach Belieben in diesem Standbild herumgehen kann. Genau das wollen wir erreichen, aber inmitten von Haien. Ich höre die Taucher unter Wasser vor Begeisterung aufschreien, 

 Das Team führt einen ersten Versuch mit dem „Bilderbogen“ (Arche d’images) durch, um eine Ansammlung von Schwarzschwanz-Schnappern (Lutjanus fulvus) am Rande des Riffs zu fotografieren, dies knapp über den großen Tiefen rund um das Atoll.

Das Team führt einen ersten Versuch mit dem „Bilderbogen“ (Arche d’images) durch, um eine Ansammlung von Schwarzschwanz-Schnappern (Lutjanus fulvus) am Rande des Riffs zu fotografieren, dies knapp über den großen Tiefen rund um das Atoll.

Nun geht es also nur noch darum, HAIE EINZUFANGEN.

wenn eine packende Jagdszene festgehalten wird. Für mich ist das eine Versöhnung von Fotografie und Film: die Zeit stoppen und gleichzeitig der Bewegung Freiheit lassen.

Das wissenschaftliche Team analysiert die Videos mit ihren 1000 Bildern pro Sekunde, die wir seit der ersten Expedition aufgenommen haben. Sie ermöglichen es, die verschiedenen Phasen eines Angriffs zu verstehen: Erstens sind es zweifellos die Geräusche, die den Hai anziehen, aber auch das Sehen und die Bewegungen der anderen Meerestiere sind wichtig. Im Halbdunkel haben Haie einen zusätzlichen Vorteil dank Sinnesorganen, die am Kopf und vor allem rund ums Maul unter der Haut angeordnet sind. Diese Lorenzinischen Ampullen sind Elektrorezeptoren, mit denen sie die von anderen Fischen erzeugten elektrischen Felder erkennen können, was vor allem der Ortung der Beute im letzten Augenblick des Angriffs dient.

Dieses Jahr wollen wir ein Rudel von rund vierzig Haien beobachten, um ihre Aktivität und Verschiebungsgeschwindigkeit zu schätzen sowie die Jagd in Zweiergruppen zu bestätigen. Bei dieser Langzeitbeobachtung sollen ein Jahr lang all ihre Bewegungen erfasst werden. Deshalb hat das Team zu Beginn der Expedition in der Passage zur Lagune 25 akustische Empfänger in­stalliert, welche die Signale der markierten Haie erfassen sollen. Nun geht es also nur noch darum, Haie einzufangen. Ich habe auch schon Haie mit Köder und Haken geangelt, finde das aber extrem invasiv. Also beschließe ich, eine bekannte andere Technik zu nutzen. Man packt den Hai an der Schwanzwurzel und dreht ihn um. Erstaunlicherweise fällt der Hai dadurch augenblicklich in Schreckstarre und wird manipulierbar, obwohl er eine Sekunde zuvor noch voller Jagdeifer war. So bringen wir die vierzig Grauhaie schonend an die Oberfläche. Dann pflanzen ihnen unsere Wissenschaftler Johann, Charlie und ­Yannis einen kleinen Sender in die Bauchhöhle ein. Dieser Eingriff ist für Haie unbedeutend, und die Schnittwunde heilt unglaublich schnell.

Wir sind stolz auf all diese Bilder als Ernte unserer Tauchgänge, die die Taktik der Haie beim Einkreisen von Beutetieren ebenso illustrieren wie die wilden Liebesspiele der Zackenbarsche. Doch die Aufnahmen sind nur ein kleiner Einblick in die großen Geheimnisse der Ozeane. Wie könnte es auch anders sein? Schließlich bedecken die Weltmeere zwei Drittel 
der Erdoberfläche. Und wenn wir in Lebensraumvolumen rechnen, machen die Ozeane sogar 95% dieses Planeten aus. Eigentlich wird er fälschlich Erde genannt. Was können wir armen kiemen­losen Primaten schon von diesem riesigen, tiefen „Meeresplaneten“ wissen? 

 Tybo und Antonin positionieren den Bilderbogen, um die Haie beim Beutefang zu filmen. Nacht für Nacht tauchten sie mit dieser sperrigen Struktur, um Szenen festzuhalten, die noch nie zuvor auf diese Weise dokumentiert wurden.

Tybo und Antonin positionieren den Bilderbogen, um die Haie beim Beutefang zu filmen. Nacht für Nacht tauchten sie mit dieser sperrigen Struktur, um Szenen festzuhalten, die noch nie zuvor auf diese Weise dokumentiert wurden.

700 Haie IN DER NACHT

Vielleicht besteht das ABENTEUER JA GERADE DARIN, anderswo NEUE ROUTINEN zu schaffen.

Über vier Jahre hinweg tauchten wir insgesamt während 21 Wochen jeden Tag und jede Nacht. Für uns alle sind das etwa 3000 Stunden unter Wasser, immer am gleichen Ort. Ich mochte die dabei erworbene Routine und glaube, das gilt auch für meine Gefährten. Vielleicht besteht das Aben­teuer ja gerade darin, anderswo neue Routinen zu schaffen. 

Beobachten entspricht dem Versuch, die Wirklichkeit zu erklären; sie zu fotografieren bedeutet, sie zu sublimieren. Unter wasser laufen die Jagd- und Laichszenen so schnell ab, dass das Beobachten von bloßem Auge unmöglich ist. Um die Eindrücke festzuhalten und zu verstehen, bleibt nur das Fotografieren und nachträgliche Analysieren, möglich geworden dank 85 000 Aufnahmen in vier Expeditionen über vier Jahre.

Seit vorgeschichtlicher Zeit waren die Menschen von der Wildtierwelt fasziniert und verspürten das Bedürfnis, sie zu veranschaulichen: in der Vergangenheit beispielsweise die Höhlenbewohner mit ihren Malereien, heute die Taucher mit ihren Aufnahmen in Hochauflösung. Ist’s die Kontinuität ein und derselben Bildtradi­tion? Im Lauf der Jahrhunderte ist es vielleicht der gleiche etwas hilflose, aber beruhigende Versuch einer Hommage an die unerklärliche Schönheit der Natur.

Unter Wasser erlahmt die Neugier nicht, im Gegenteil. Je länger die Tauchzeiten werden, desto stärker wird das Bedürfnis, nachzudenken. Das ist das Paradox dieser schier unzähligen in der Tiefe verbrachten Stunden, um flüchtige, aber unvergessliche Ausschnitte des Lebens im Meer einzufangen. Das Verlangen bleibt, solche Augenblicke erneut zu erleben. Wir werden zurückkommen.

Der Tuamotu-Archipel besteht aus 76 über 1600 Kilometer verstreuten Atollen. Auf den üblichen Pazifikkarten sind die meisten von ihnen nicht einmal vermerkt. Dabei sind diese Überbleibsel erloschener Vulkane noch sehr lebendig. Für mich sind sie Gebirge, von denen wir nur die Gipfel kennen. Tieftauchen wird zum Rückwärtsbergsteigen. 2017 fuhren wir mit unserem Boot von Atoll zu Atoll, um an diesen untermeerischen Berghängen zu tauchen.

Ein Atoll kann man als einfachen flachen Korallenring verstehen, an der Oberfläche praktisch mit dem Meeresspiegel bündig, oder als lebende Krone, die auf einer 2000 Meter hohen Felsnadel ruht. Je nach Blickwinkel – terrestrisch oder untermeerisch – ist es eine von Pflanzen besiedelte Insel oder eine Kolonie von Nessel- oder Korallenpolypen, die für den Aufbau der Insel sorgt. Beide Sichtweisen sind möglich.

Auf der einen Seite die unermüdliche Arbeit der winzigen Korallenpolypen, die sich das Riff als ihren Lebensraum selbst bauen, auf der anderen Seite die Kräfte des Ozeans, die dagegen anstürmen. Doch ohne diese zerstörerische Kraft der Wogen wäre das Korallenriff monolithisch, glatt, frei von Reliefs und Brüchen, aber auch ein weit weniger vielfältiger Lebensraum. 

700 Haie IN DER NACHT

An den DUNKLEN ABHÄNGEN leuchten faszinierende vertikale weiße Couloirs.

In einer Tiefe von 120 Metern sind die Abhänge atemberaubend reliefiert. Eigentlich überraschend angesichts der Ruhe, die hier in der Tiefsee herrscht. Man darf aber nicht vergessen, dass der Meeresspiegel vor 20 000 Jahren 120 Meter tiefer lag. Was wir hier sehen, sind die Überreste einer alten Küstenlinie, die vom Wellengang einer anderen Zeit heimgesucht wurde. Der Tauchgang wird zur Zeitreise in die Vergangenheit.

An den dunklen Abhängen leuchten faszinierende vertikale weiße Couloirs. Es ist der zu Sand erodierte Kalk des oberflächennahen Riffs, der hier bis 100 Meter unter die Oberfläche rieselt. Diese Kaskaden folgen in Zeitlupe tiefen vertikalen Kerben. Poetischer ausgedrückt, scheinen die sandigen Tränen der gequälten Korallen über die Wangen des Atolls in die Tiefe zu fließen.

700 Haie IN DER NACHT
700 Haie IN DER NACHT

Sehr schnell sind die ersten Meter von kleinen Rogenwolken übersät, die sich IM MILCHIGEN WASSER AUFLÖSEN.

Ob bei Voll- oder Neumond, das Nachtgestirn steuert die Treffen der Fischschwärme in der Passage des Atolls. Im Gegensatz zu den Zackenbarschen versammeln sich die Sträflings-Doktorfische (Acanthurus triostegus), lokal „Manini“ genannt, alle zwei Wochen zur Paarung. Vor Sonnen­untergang steigen sie an den Hängen der Passage in einer Reihe in die Höhe, um einen passenden Laichplatz zu finden. 

Dieser kann wechseln, und auch die Anzahl der Fische variiert. Es dauerte drei Wochen, bis sich die Zackenbarsche für die Fortpflanzung versammelt hatten, doch den kleinen Doktorfischen reicht eine halbe Stunde, da sie fürs Laichen weder ein Territorium verteidigen noch um Weibchen kämpfen müssen. Wir beobachten sie in nur wenigen Metern Tiefe und warten wie bei den Zackenbarschen auf den großen Moment. In einem gemeinsamen Impuls steigen sie in kleinen Gruppen an die Oberfläche und pressen ihren Rogen und Samen aus. Haie versuchen diese Treffen auszunutzen, um Beute zu machen, allerdings oft vergeblich. Sehr schnell sind die ersten Meter von kleinen Rogenwolken übersät, die sich im milchigen Wasser auflösen. Nach etwa zwanzig Minuten kehren die „Manini“ um und schwimmen in die Lagune zurück. •

 Die „Manini“ – eine kleine Doktorfischart – versammeln sich alle zwei Wochen bei Sonnenuntergang, um im flachen Wasser bei der Atollpassage zu laichen. Dabei verlassen sie sich auf ihre Beweglichkeit, um den hungrigen Kiefern der Haie zu entkommen.

Die „Manini“ – eine kleine Doktorfischart – versammeln sich alle zwei Wochen bei Sonnenuntergang, um im flachen Wasser bei der Atollpassage zu laichen. Dabei verlassen sie sich auf ihre Beweglichkeit, um den hungrigen Kiefern der Haie zu entkommen.

Kapitel 04

ARMBÄNDER

Die Konstruktion von Metallarmbändern ist schier ebenso kompliziert wie die eines mechanischen Uhrwerks.

Autoren der Kapitel

JEFFREY S. KINGSTON
ARMBÄNDER
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