Kapitel 5
Stellen Sie sich eine ländliche Szenerie in der Poebene vor und mittendrin einen Weiler, in dem sich eines der berühmtesten Restaurants Italiens befindet, „Dal Pescatore“.
Der Name „Dal Pescatore“ ist ein wenig irreführend, da man sofort an ein Fischrestaurant denkt. Und historisch war es das ursprünglich auch, als der Großvater des heutigen Patrons, der ebenfalls Antonio Santini hieß, und seine Gattin Teresa die Gaststätte 1926 eröffneten. Das Angebot des damaligen „Vino e Pesce“ bestand vor allem aus frischem Süßwasserfisch aus dem Bächlein hinter dem Restaurant, das heute unter Naturschutz steht, und dem lokalen Lambrusco-Wein. An die ländliche Osteria erinnern heute noch einige Gerichte, zum Beispiel der Hecht mit Petersilie, Sardellen und Kapern.
Antonios und Teresas Sohn Giovanni, von seinen Eltern bestens geschult, leitete den Aufwärtstrend des „Vino e Pesce“ ein, als er und seine Frau Bruna die ersten Schritte zur Veränderung des Restaurants unternahmen. Bruna, die neben ihrer Schwiegermutter Teresa kochte, führte nicht nur Pasta ein, sie machte sie auch zu ihrer Spezialität, einschließlich der Tortelli di zucca, die zu einem Klassiker des Hauses wurden. Und als auch Fleischgerichte auf der Speisekarte Einzug hielten, wurde parallel dazu die Ausstattung des Restaurants aufgewertet.Als der Status einer Trattoria erreicht war, wurde es Zeit für den Namenswechsel zum heutigen „Dal Pescatore“.
Die dritte Generation der Santini übernahm das Zepter, als Giovannis und Brunas Sohn Antonio Nadia heiratete, die heute mit ihrem Sohn Giovanni, der vierten Generation, die Küche leitet. Es war Antonios und Nadias gemeinsamer Entscheid, das „Dal Pescatore“ nochmals umzuwandeln. Auf ihrer Hochzeitsreise 1974 nach Frankreich besuchten sie einige der berühmtesten Stars der Michelin-Kavalkade: Bocuse, Haeberlin, Troisgros, Savoy, Pic, Guérard, Vergé, Ducasse. Das öffnete ihnen nicht bloß die Augen für dieses Niveau der Küche, es weckte auch ihren Ehrgeiz, das „Dal Pescatore“ auf den Gipfel von drei Michelin- Sternen zu bringen.
Bemerkenswert ist nicht nur, dass Nadias Kochkunst die ultimative Krönung mit drei Sternen erreichte – den ersten 1982, den zweiten 1987 und den dritten 1996, und sie strahlen hier seither ohne Unterbruch –, ohne je bei anderen Köchen gearbeitet zu haben. Die traditionelle Laufbahn, um zum exklusiven „Club“ der Drei-Sterne-Chefs zu stoßen, ist sonst stets mit Lehrgängen in anderen prestigereichen Küchen verbunden, um die Rezepte, Techniken, Stilarten und, jawohl, Tricks der Meisterköche kennenzulernen. Nadia erreichte dieses Niveau ganz alleine, abgesehen von der Anleitung durch Bruna, die ebenfalls nie in einem anderen Restaurant in die Lehre gegangen war.
Das heißt jedoch nicht, dass Antonio und Nadia sich von der übrigen gastronomischen Welt fernhielten. Im Gegenteil, sie wurden Mitglied bei den renommierten Gruppen Relais & Châteaux und Grandes Tables du Monde. Außerdem pflegten sie enge Freundschaften mit mehreren Spitzenköchen, darunter insbesondere Paul Bocuse, mit dem sie drei Tage vor seinem Tod im Januar 2018 dinierten, sowie Marc Haeberlin von der Auberge de l’Ill in Illhaeusern (ebenfalls ein Familienrestaurant mit drei Michelin-Sternen und persönlicher Favorit des Autors, besprochen in den Lettres du Brassus Nr. 9). Marc und Antonio telefonieren jede Woche miteinander.
Die von der Landwirtschaft geprägte Umgebung lässt nicht auf die Eleganz der Innenausstattung des Restaurants schließen. Pastellfarben bemalte Wände, anmutige Bögen über den vielen die Räume trennenden Durchgängen, warme Holzfußböden und handgewebte Teppiche, viel Abstand zwischen den Tischen – all dies schafft eine geschmackvolle, luxuriöse Atmosphäre, wie es sie nur in Italien gibt. Dennoch haben die Santini etwas von den Japanern ausgeliehen. Jeder Speisesaal ist mit mindestens einer von der Decke bis zum Boden reichenden Glaswand mit Blick auf den Garten ausgestattet. So wird dieser genau wie in den japanischen Kaiseki-Restaurants oder Kyoto-Teehäusern in den Raum einbezogen.
In einem italienischen Restaurant mit Michelin-Sternen zu speisen kann angesichts der übermäßigen Bevorzugung der französischen Fusionsküche durch die Michelin-Inspektoren ein gewisses Risiko darstellen. Liest man die Speisekarte des „Dal Pescatore“ mit ihrem reichhaltigen Angebot an Pasta und Risotto, werden solche Bedenken jedoch ausgeräumt. Zusätzliche Beruhigung bietet der Auftakt des Degustationsmenüs, Composta di pomodori e melanzane con basilico fresco: ein Geviert aus herrlich reifen italienischen Tomaten über konfierten Auberginen an mit Basilikum gewürztem toskanischem Olivenöl und einigen Tropfen Balsamico, den die Santini in der Scheune ihres Anwesens herstellen und reifen lassen.
Nichts ist jedoch ein stärkeres Zeichen der Treue zur großen Küchentradition Italiens und zur Geschichte des „Dal Pescatore“ als die Tortelli di zucca (zucca, amaretti, mostarda e Parmigiano Reggiano). Schließlich war es Bruna, die sie während der Trattoria-Zeit auf die Speisekarte des „Dal Pescatore“ brachte. Sie sind derart berühmt, dass es schlicht und einfach unvorstellbar ist, dieses Gericht nicht zu bestellen, und sie allein rechtfertigen die je zwei Stunden Pilgerfahrt von Mailand und zurück. Diese Tortelli passen voll und ganz zur begehrten Definition von Michelins Drei-Sterne-Bewertung „Vaut le voyage“. Mit Kürbis gefüllte Teigtaschen, seien es Ravioli, Tortelli oder Cappellacci, gehören zu den Grundnahrungsmitteln Norditaliens. Sie werden oft durch die Zugabe von Mandelnoten mittels Amaretti-Bröseln verfeinert. Was die Version des „Dal Pescatore“ heraushebt, ist der Mostardo, ein mit Senf aufgepepptes Früchteconfit. Die Früchte variieren je nach Jahreszeit, meist ist es die weiße Wassermelone. Die Finesse, ja Perfektion dieser Tortelli ist überirdisch: salzig, süß, fruchtig, erdig.
Ein weiteres hervorragendes Teigwarengericht sind die Tortellini di Chianina con erbette al salto, cipolle rosse di Tropea, crema di piselli e pergamena di topinambur. Nur allzu oft wird die Füllung der Tortellini durch die Kombination der Pasta und der Sauce übertönt und in den Hintergrund gedrängt. Hier kommt die delikate und leicht erdig schmeckende Füllung mit Chianina-Rindfleisch voll zum Tragen. Die daneben angerichtete hellgrüne Sauce aus Erbsen und Topinambur liefert einen subtilen Akzent und überlässt dem Rind die Hauptrolle. Ein paar sautierte Spinatblätter und konfierte rote Zwiebeln bilden Kontrapunkte.
In jeder Beziehung ein Triumph, auch in Bezug auf seine leuchtende Farbe, ist der Risotto con piselli, asparagi, pane tostato alle erbe e bottarga di tonno. Mit seinem prächtigen Farngrün ist es nicht weniger als eine Ode an den Frühling. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Risotti mit Erbsen oder Spargel, bei denen die Gemüsearomen beim Kochen weitgehend verlorengehen, bewahren hier beide mit brillanter Intensität und Frische ihre Eigenständigkeit, unterstützt und hervorgehoben von den gerösteten Schwarzbrotkrümeln. Auch der Reis selbst schmeckt feiner als der üblicherweise für Risotto verwendete Arborio. Es handelt sich um die flache IGP-Sorte Vialone Nano Semifino, die in der Poebene um Mantua und Verona kultiviert wird.
Die Santini schätzen offensichtlich Gemüse sehr. Eine von Giovannis Kreationen nennt sich Misticanza dell’orto con orata marinata, mousse di melanzane, burrata e maionese allo zenzero. Einige perfekt al dente gegarte Karottenstreifen werden auf dem Teller vertikal in Form eines doppelten „P“ plaziert, dessen Kreise mit roher Meerbrasse gefüllt werden. Eine mit Ingwer gewürzte Mayonnaise begleitet die restlichen knackigen Gemüse, die Auberginenmousse und den Burrata-Frischkäse. Das Kennzeichen eines großen Kochs ist, dass er die wichtige Rolle der Textur am Gaumen erkennt, und das ist bei Giovanni eindeutig der Fall.
Eine Spezialität des Hauses, die zur französischen Küche tendiert, ist Terrina di astice con caviale oscietra royal e olio extra vergine toscano. Warum bloß sind Terrinen wie diese in so vielen weltberühmten Restaurants verschwunden? Wahrscheinlich weil sie nicht nur arbeitsintensiv sind, sondern auch unglaubliche Präzision bei der Zubereitung erfordern. Die großzügig portionierte Scheibe enthielt reichlich auf den Punkt gegarten, glasigen Hummer, der von einem Minimum an Hummergelee in Form gehalten wurde. Die Balance ist perfekt, da der ebenfalls generöse Klacks Kaviar nicht dominiert, sondern als subtiles Gewürz wahrgenommen wird, dessen Salzigkeit die Süße des Hummers betont.
Ein weiterer Gruß nach Frankreich sind die Coscette di rana gratinate alle erbe fini. Doch obwohl man bei Froschschenkeln schier unwillkürlich an französische Küche denkt: Die Zubereitung ist italienisch geprägt. Das manifestiert sich in den Zutaten Radicchio, Balsamico und Käse, die zu den zarten und schmackhaften Schenkeln serviert werden.
Die Auswahl der Primi piatti war auch mit einer Gänseleber bestückt, der Foie gras d’oca in padella con frutto della passione e vino passito. Gebratene Gänseleber mit einem leichten süßsauren Topping zählt rund um den Erdball zu den Klassikern der gehobenen Küche. Die Santini machen daraus allerdings etwas Besonderes. Erstens servieren sie wirklich Gänseleber. Mit sehr wenigen Ausnahmen handelt es sich bei gebratenen Zubereitungen anderswo um Entenstopfleber. Hängt das etwa mit der Freundschaft der Santini mit den Haeberlins zusammen, die ebenfalls auf Gänseleber spezialisiert sind, obwohl sie dort meist als kalte Terrine serviert wird? Zweitens ist die Basis der Passionsfruchtsauce der Passito Veneto I Capitelli, ein weißer Süßwein aus der Gegend um Verona in der Region Veneto. Er verstärkt die Exotik der Passionsfrucht mit Noten von getrockneten Aprikosen, Honig, Mango und Papaya. Die ideale Begleitung dazu ist natürlich derselbe Wein, den Alberto großzügig einschenkt. Plaudert man mit Alberto über die Hochschätzung der traditionellen italienischen Küche im „Dal Pescatore“, schwärmt er von zwei Secondi piatti. Zuerst vom Cappello da prete di manzo al Nebbiolo e Polenta gialla di Storo. Es handelt sich dabei um langsam geschmortes Rindfleisch mit Polenta, das in verschiedener Hinsicht die Grenzen dieses Genres überschreitet. Das Zerteilen des Rindfleischs ist für die Region Mantua typisch. Indem sie das Rind anders als alle andern aufschneiden, können die hiesigen Metzger Teile der Schulter nutzen, die andernfalls verlorengingen. Das Ergebnis nach langem Garen bei Niedertemperatur und regelmäßigem Übergießen mit einer konzentrierten, mit dem erdig schmeckenden Nebbiolo angereicherten Rindsbrühe ist himmlisch. Das allmählich schmelzende Kollagen der Schulter macht das Fleisch unglaublich zart und aromatisch. Zu dieser Köstlichkeit ist die feine Storo-Polenta aus dem Trentino die ideale Begleitung.
Beim zweiten Gericht, das er hervorhob, steht der Aal im Mittelpunkt: Anguilla alla griglia, servita con radicchio di campo. Es scheint einfach, doch das täuscht. Den Santini gelingt es, den Aal so gekonnt zu grillen, dass eine prächtige Kräuterkruste entsteht und das Fischfleisch trotzdem saftig bleibt und seine natürliche elastische Konsistenz behält.
Neben Albertos traditionellen Favoriten gibt es jedoch auch noch einige Spezialitäten des Hauses, die Aufmerksamkeit verdienen, wie der Sella di capriolo con salsa al Cabernet e mirtilli neri. Der traditionell zubereitete, perfekt saignant gebratene Rehrücken wird mit einer Sauce aus Cabernet und Heidelbeeren kredenzt.
Es ist spannend, die klassische Zabaione prominent auf der Dessertkarte anzutreffen. Sie ist der Star der Meringa con mousse di pistacchio, mandorle e zabaione al Marsala. Zabaione wird im Namen der Leichtigkeit häufig mit Schlagsahne verdünnt. Das schwächt natürlich die Pracht und Herrlichkeit, die sie verkörpert: dekadente Üppigkeit. Die Santini setzen dies, wie es sein sollte, mit zwei Zabaione-Seelein um, flankiert von Pistazienmousse, die mit Meringue, Mandeln und Schokolade gekrönt ist.
Zabaione kommt auch in einem Kuchendessert zum Zuge, der Torta di amaretti (caffè, panna, croccante, zabaione). Mit ihren Schichten aus unterschiedlichen Zutaten ist sie eine Art italienische Marjolaine-Torte. Sie besteht aus Lagen von Sahneschaum, Zabaione und Amaretti, getoppt von knusprigen karamellisierten Mandeln.
Schokolade spielt selbstverständlich die Hauptrolle beim Fondente al cioccolato guanaja con crumble croccante al cacao, pere al profumo d’arancia e gelato alla vaniglia. Hier werden Schokoladekuchen und -mousse von moderater Süße, wie sie für Italien typisch ist, mit Birnenmousse und Vanilleglace gepaart. Klassisch und perfekt.
Statt hier Superlative zu bündeln, um das „Dal Pescatore“ zu beschreiben, sei daran erinnert, dass dieses Restaurant angesichts seiner Abgeschiedenheit fern der großen Zentren und Verkehrsströme ohne die Brillanz seiner Küche sowie die Wärme und Großzügigkeit der Familie Santini wohl längst verschwunden wäre. Doch das Gegenteil ist der Fall: Ungeachtet der langen Anreise füllen diese überragenden Trümpfe die Tische im „Dal Pescatore“ mittags wie abends. •