Kapitel 6
Eine neue Art, Sake zu genießen.
Was genau ist eigentlich Sake? Für Fans besteht kein Zweifel, dass es sich dabei um Reiswein handelt. Was denn sonst? Das ist soweit richtig, aber ist damit das alkoholische, manchmal trübe, manchmal süßliche Getränk gemeint, das als Aperitif serviert wird? Oder eher die spritzige Apéro-Variante? Oder vielleicht die starke Form, die warm in fingerhutkleinen Gläsern aufgetragen wird? Es kann jedoch auch die klare, maßvollere, aromatische Form mit geringerem Alkoholgehalt gemeint sein, die in ordentlichen Weingläsern zum Essen gereicht wird. Diesem Reiswein wollen wir uns zuwenden, denn er verkörpert nicht nur einen modernen Trend in der Sake-Welt, sondern hat auch berühmten französischen Chefköchen den Kopf verdreht. Darunter auch Joël Robuchon, der diesen neuen Stil auf die Weinkarten seiner mit Michelin-Sternen ausgezeichneten Restaurants genommen hat.
Selbst im Rahmen dieser modernen Sake-Klasse gibt es große Unterschiede zwischen den Sake von Dassai – dem klaren, milden und höchst raffinierten Dassai 23 und dem Dassai Beyond, die beide jung getrunken werden sollten –, sowie dem bernsteinfarbenen älteren Sake von Tsukino Katsura. Doch so unterschiedlich sie in Stil, Produktionsweise und Alter sein mögen, zum Essen kommen sie in einem Weinglas am besten zum Ausdruck.
Zum Einstieg etwas Grundwissen zur Produktion von Sake. Sie beginnt mit dem Reis. Die bevorzugte Sorte ist Yamada Nishiki. Gleichwohl baute man 2010 nicht weniger als 110 verschiedene Sorten Sake-Reis an. Sake-Reis unterscheidet sich vom Tafelreis durch einen höheren Stärkegehalt im Innern. Beim Tafelreis ist die Stärke gleichmäßiger über das ganze Reiskorn verteilt.
Die Reiskörner werden zunächst poliert, um die äußeren Kleieschichten zu entfernen. Die Mengen, die abgetragen werden, sind unterschiedlich. Als allgemeine Regel gilt: Die hochwertigsten Sake werden aus Reis hergestellt, bei dem 50% und mehr des Gesamtgewichts entfernt wurden. Sake der 50%-Stufe werden als Dai-ginjo bezeichnet, unter 60% als Ginjo. Selbstverständlich gibt es auch Sake von minderer Qualität aus weniger stark poliertem Reis. Damit kein Bruch entsteht und die Stärke im Innern des Reiskorns bleibt, muss mit größter Vorsicht poliert werden.
Nach dem Polieren wird der Reis gewaschen und gedämpft. Im nächsten Schritt zeigt sich der große Unterschied zwischen Traubenwein und Reiswein. Trauben besitzen Zucker und Hefe, so dass die Gärung, durch die Zucker in Alkohol verwandelt wird, auf natürliche Weise und spontan stattfindet. Allerdings ergreifen etliche Winzer Maßnahmen, um den Gärungsprozess hinauszuzögern, der sonst bei den ins Fass gefüllten Trauben „automatisch“ beginnt. Reis benötigt hingegen Hilfe. Deshalb wird eine Portion des gedämpften Reises beiseitegelegt und mit Schimmelpilz, dem Koji-kin, geimpft. Unter dem Mikroskop erinnert dieser Aspergillus oryzae an Broccoli. Eigentlich gibt es drei Arten dieses Schimmelpilzes: einen schwarzen, einen weißen und einen gelben. Für Sake wird die gelbe Variante verwendet. Die anderen setzt man für die Produktion von Soja und Miso ein, die ebenfalls vergoren werden.
Die Impfung eines Teils des Reises mit Schimmelpilz ist ein sorgfältig kontrollierter Prozess, der im allgemeinen zwei Tage dauert. Temperatur und Feuchtigkeit werden genauestens gesteuert und kontrolliert. Während dieser Reifezeit mischen die Kurabito genannten Sake-Arbeiter diesen Koji fleißig. Dadurch wird die Stärke in Glucose umgewandelt, da dieser Traubenzucker die Fermentation fördert.
Ist die Koji-Herstellung abgeschlossen, wird er dem übrigen gedämpften Reis zusammen mit Wasser, Sake-Hefe – von der mehrere Arten existieren wie die Sokujo Moto (sie wird von Dassai verwendet) – und Milchsäure beigefügt. Sake-Hefe funktioniert am besten in einem leicht sauren Milieu. Tiefe Temperaturen und lange Gärzeiten sind bei den besten Sake die Regel. Im allgemeinen dauert die Fermentation zwischen 25 und 35 Tagen.
Danach wird der Sake vom Bodensatz getrennt, indem man das Ganze durch ein Sieb presst; bei Dassai geschieht die Trennung durch einen Zentrifugalprozess. Mehrmaliges Filtrieren optimiert die Klärung. Pasteurisierung und Flaschenabfüllung sind die letzten Schritte.
Dassai in den Yamaguchi-Bergen, eine Stunde Autofahrt von Iwakuni in Südjapan entfernt, ist seit 1770 im Sake-Geschäft tätig, wenn auch nicht unter dem heutigen Namen. Der jetzige Präsident von Dassai, Hiroshi Sakurai, übernahm 1984 die Leitung des Familienbetriebs. Zu dieser Zeit stand das Unternehmen am Rand des Konkurses. Seine Sake am unteren Ende der Preis-Qualitäts-Skala kämpften in einem rückläufigen lokalen Markt. Sakurai begriff, dass er auch außerhalb seiner Region erfolgreich sein musste, insbesondere in Tokio. Um dies zu erreichen, war eine radikale Umkehr nötig, eine vollständig neue Fokussierung auf das Beste vom Besten: Dai-ginjo. Dazu musste alles außer dem Wasser geändert werden: Es galt einen neuen Braumeister (Toji) zu finden und den allerbesten Reis, von dem nach dem Polieren noch nie dagewesene 23% Volumen übrig blieben statt den früheren 75%.
Als er diesen Wechsel durchsetzte, musste Sakurai heftige Kritik über sich ergehen lassen, und es hieß, er habe den Verstand verloren. In den 1980er Jahren stand ein Spitzen-Sake nicht zur Debatte. Laut Sakurai gab es damals den Spruch „Sake ist Sake“. Er war der erste in Japan, der neue Wege ging. Die Inspiration, dieses Risiko einzugehen, kam ausgerechnet aus dem Bordelais. Er hatte von den langen Mühen von Château Mouton Rothschild bei seinem Kampf für die Klassierung als Premier Grand Cru classé erfahren, der schließlich 1973 von Erfolg gekrönt war. Er war auf viele Schwierigkeiten gefasst, als er die speziellen Qualitäten, die er seinem Sake verleihen wollte, predigte und erklärte.
Um die Sake-Produktion zu verbessern, mussten zahlreiche Herausforderungen bewältigt werden. Ein springender Punkt war das Wasser am Standort der Brauerei, das ungewöhnlich weich ist. Die richtigen Mineralien, vor allem Kalium, Magnesium und Phosphor, begünstigen die Gärung. Umgekehrt ruinieren Mineralien wie Eisen und Mangan Farbe und Aroma. Obwohl dem Wasser dieser Region Mineralien fehlen, welche die Fermentation beschleunigen, stellte sich die daraus resultierende Verlangsamung des Gärprozesses als Vorteil heraus, der dem Endprodukt Raffinesse und Eleganz verschafft. Sakurai räumt rückblickend ein, dass sein Toji und dessen Team zahlreiche Fehler gemacht hätten und falsche Wege eingeschlagen hätten, bevor sie das Verfahren perfektioniert und das weiche Wasser als Gewinn erkannt hatten.
Bei der Suche nach Qualitätssteigerung gab es noch weitere Neuerungen. Dassai verwendet lediglich ungefähr 10% der üblichen Menge Koji-kin-Schimmelpilz. Das verlangsamt zwar den Prozess, doch der zusätzliche Zeitaufwand unterstützt das Eindringen der Bakterien in den Reis, statt dass sie bloß an der Oberfläche bleiben.
Was den Reis betrifft, entschied sich Hiroshi Sakurai für Yamada Nishiki, eine Sorte, die 300 Kilometer entfernt in der Präfektur Hyōgo im Westen Japans kultiviert wird. Er ist heikel in der Wahl der Bauern, da er ausschließlich von Produzenten kauft, die beste Qualität erzeugen. Obschon Reis in Japan nicht nach seiner Herkunft klassifiziert ist, wird er in fünf Güteklassen eingeteilt. Dassai legt größte Sorgfalt auf die Triage des gelieferten Reises.
Der Dassai 23 war revolutionär, als er auf den Markt kam, heute gibt es jedoch eine Menge Nachahmer in der neuen Kategorie von Prestige-Sake als Getränk zum Essen und Alternative zu gutem Wein. Als der Erfolg des Dassai 23 wuchs, ging Hiroshi Sakurai noch einen Schritt weiter in Richtung Super-Sake.
Sein Super-Sake ähnelt in mancher Beziehung einer Cuvée Prestige aus der Champagne. Er wollte das Beste vom Besten. Dassai nennt seinen Super-Sake „Dassai Beyond“. Dieser Name sagt alles. Das Polieren geht noch weiter als beim Dassai 23, bleibt doch nur ein Prozentsatz in den Zehnern übrig. Dieser Wert dient in derselben Weise als Markenzeichen, aber beim Beyond geht es um mehr als Prozentzahlen. Auch der Koji, die eingesetzte Reis-SchimmelpilzMischung, ist anders. Seine Herstellung dauert länger und bringt dadurch größere Tiefe. Dennoch gibt es gemeinsame Grundlagen. Beide, der Beyond und der 23, sind erstklassige Sake. Wie beim 23 folgen nun andere mit ihrer eigenen Version von Super-Sake. Der Beyond ist extrem limitiert: Pro Jahr werden nur 15 000 Flaschen produziert.
Dassais Ruhm hat sich verbreitet und parallel dazu auch die Präsenz der Marke in den Vereinigten Staaten und Europa. Als Premierminister Shinzō Abe das Weiße Haus besuchte, wurde an sämtlichen Tischen Dassai 23 serviert, mit einer Ausnahme: An Obamas Tafel kredenzte man den Beyond.
Wie fast alle Sake werden auch der Beyond und der 23 sehr jung getrunken. Keiner der beiden wird durch das Altern in der Flasche besser.
Tsukino Katsura ist Kiotos ältester Sake-Produzent, ja sogar einer der ältesten ganz Japans. Die Brauerei wurde 1675 gegründet und war während vierzehn Generationen im Besitz derselben Familie. Das Unternehmen hat ein breitgefächertes Angebot, das vom trüben, ungefilterten Nigori bis zum alten Sake reicht. Sein Nigori soll den eigenen Angaben nach der erste sein, der nach dem Dai-ginjo-Standard hergestellt wurde.
Wir sind jedoch wegen dem einzigartigen alten, Koshu genannten Sake der Brauerei nach Kioto gereist. Gealterter Sake ist eine echte Rarität. Laut der allgemein geltenden Regel soll man Sake nicht altern lassen. Ist der Gärprozess einmal abgeschlossen, entwickelt er sich nicht weiter, sondern wird im Gegenteil mit der Zeit schlechter. Darum war allein schon die Möglichkeit, dass es eine Ausnahme von dieser zumindest für Weinliebhaber brutalen Realität geben könnte, die Pilgerreise wert, um das Geheimnis von Tsukino Katsura kennenzulernen.
Es gibt einen amüsanten Widerspruch in Zusammenhang mit dem alten Sake dieser Brauerei: Obwohl ihr alter Sake als etwas Neues und Bahnbrechendes betrachtet wird, entdeckten wir, dass die Idee mindestens aufs Jahr 1683 zurückgeht und somit alles andere als revolutionär ist. Laut Tokubee Masuda, dem CEO von Tsukino Katsura, ist sein Vater zufällig auf ein Buch aus dieser Zeit gestoßen, in dem von altem Sake die Rede war. In einem Kochbuch aus derselben Epoche war zudem nicht nur ein alter Sake erwähnt, es wurden sogar noch dazu passende Speisen aufgezählt.
Da er keine Angaben darüber fand, wie diese alten Sake hergestellt wurden, konsultierte Masudas Vater einen Sake-Spezialisten der Universität Tokio, Professor Kin’ichirō Sakaguchi. Dieser empfahl, es mit Porzellan zum Lagern zu versuchen.
Die größte Herausforderung war, Porzellan zu finden, das jenem vor 300 Jahren entspricht. Vater Masuda machte sich auf die Suche und fand in Japan und China einige wenige Porzellankrüge. Tsukino Katsura hütet sie wie den eigenen Augapfel, da gleiche Formen in Japan nicht mehr produziert werden. Was ist die besondere Eigenschaft dieser Porzellangefäße? Ihre Porosität, die genau die richtige Menge Luft für den Kontakt mit dem Sake ins Innere eindringen lässt. So kann dieser atmen… aber weder zu viel noch zu wenig. Daher sind moderne, dichte Porzellan- oder Glasflaschen keine Alternativen. Glücklicherweise können diese Porzellangefäße wiederverwendet werden. Das bedeutet allerdings, dass ihre begrenzte Zahl die Produktionsmenge des alten Sake strikt auf nur 1200 Flaschen pro Jahr limitiert!
Bei Tsukino Katsura wird handwerklich in zwei niedrigen, Kura genannten Brauhäusern aus Holz produziert, die eine schmale Gasse säumen. Sie erinnern an die kleinen Burgunder Güter, in denen ebenfalls begrenzte Mengen Wein nach herkömmlichen Methoden erzeugt werden. Die verarbeitete Menge Reis, die nach dem Polieren übrigbleibt, beträgt beim alten Sake 35%. Damit qualifiziert er sich als Dai-ginjo. Nachdem der Sake gefiltert und pasteurisiert wurde, kommt er in die Porzellanbehälter, die an einem dunklen, kühlen Ort lagern. Auch hier gibt es eine Parallele zu den unterirdischen Burgunder Weinkellern. Hier ruhen sie in der Regel zehn Jahre lang. Es gibt allerdings Ausnahmen, denn etliche der Porzellangefäße enthalten wesentlich ältere Sake. Alle sind mit ihrem Jahrgang bezeichnet.
Bevor er in die Flasche kommt, wird der gereifte Sake gefiltert, um den Bodensatz zu entfernen, und noch einmal pasteurisiert. Jetzt ist er trinkbereit. Anders als alle übrigen Sake kann der alte Sake über längere Zeit gelagert werden, sofern er nicht dem Licht ausgesetzt wird. Durch die Lagerung wird er allerdings nicht besser, da er in der Flasche nicht weiter reift. Zu Ehren von Tokubees Vater ist die Flasche mit dessen Handschrift geschmückt.
Am Horizont zeichnet sich der Super-Sake von Tsukino Katsura ab. Geplant sind die Spezialabfüllungen eines fünfzigjährigen Sake, eine davon ist für die legendäre Hemingway-Bar im Hotel Ritz an der Place Vendôme in Paris reserviert.