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Kapitel 5

DIE DREIFACHE STABÜBERGABE

In drei der weltbesten Restaurants hat eine neue Generation das Zepter übernommen

Autoren der Kapitel

JEFFREY S. KINGSTON

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JEFFREY S. KINGSTON
DIE DREIFACHE STABÜBERGABE
DIE DREIFACHE STABÜBERGABE
Ausgabe 12 Kapitel 5

Wir leben in einer Zeit des Wandels. Nicht unbedingt, weil der Wandel geliebt und bejubelt wird, sondern weil er der Motor unseres Wohlstands ist. Stellen wir uns das Gegenteil vor: Die Zeit bleibt stehen. Großrechner beherrschen die Welt, niemand ahnt etwas von Handys, geschweige denn von Smartphones. Flugreisen sind einigen Privilegierten vorbehalten. Kameras brauchen einen Film, schriftliche Korrespondenz ein Kuvert, Papier und – Gott bewahre – eine Briefmarke, Musik eine 33-Touren-Schallplatte. In den meisten Bereichen ist es durchaus erfreulich, wie der Fortschritt die gewohnten Dinge gewandelt und abgelöst hat. Doch die Liste ist nicht allumfassend. Man nehme zum Beispiel drei der weltweit besten und mehrfach ausgezeichneten Restaurants, denen meine Wenigkeit während Jahrzehnten treu ergeben war und die in dieser Zeitschrift besprochen wurden: das „Hôtel de Ville“ in Crissier bei Lausanne (Ausgabe Nr. 1), das „Lameloise“ in Chagny im Burgund (Nr. 2) und „Le Pont de Brent“ über Montreux (Nr. 3).

In diesen drei ikonenhaften Häusern haben sich deren inspirierte Küchenchefs, die in den Lettres du Brassus begeistert porträtiert und vom Guide Michelin Jahr für Jahr mit drei Sternen dekoriert wurden, in den letzten Monaten zurückgezogen: Philippe Rochat in sein Refugium in den Walliser Bergen, Jacques Lameloise zu seiner Sammlung alter Autos und Gérard Rabaey zu seinem Fahrrad. Diese Art des Wechsels ist weit davon entfernt, allgemein beklatscht zu werden. Wo bleibt der zündende Funke dieser großen Chefs? Wo das wohlige, beruhigende Gefühl bei jedem Besuch, dass diese Meister am Herd stehen?

Was dort geschah, drückt der französische Begriff la transmission am treffendsten aus, die Stabübergabe an eine neue Generation. Jetzt schwingt in Crissier Benoît Violier das Zepter, in Chagny Eric Pras und in Brent über Montreux Stéphane Décotterd. Gibt es eine fundamentalere Veränderung für ein Restaurant als die Inthronisierung eines neuen Chefs? Das war Grund genug, diese legendären Häuser erneut zu besuchen, um unsere Berichterstattung zu aktualisieren. Wenn Sie keine Lust haben, alles seitenlang durchzulesen, um zu einem Schluss zu kommen, und auch nicht mit genügend Personal gesegnet sind, das Ihnen täglich neue Zusammenfassungen vorlegt, nehmen wir Ihnen hiermit diese Bürde ab. Bei allen dreien war die Stabübergabe ein voller Erfolg, und unsere Empfehlungen bleiben ungeschmälert begeistert. Doch dieses Resümee wird dem wahren Genius des Wechsels in den drei Restaurants nicht gerecht. Jedes war mit der Schwierigkeit konfrontiert, die hehre Geschichte, den Stil und Charakter des Hauses zu respektieren und gleichzeitig den neuen Küchenchefs die Verwirklichung ihrer eigenen Kreativität und Vorstellungen zu ermöglichen. Anders gesagt: Bei allen drei gelang das Kunststück, die treu ergebene Kundschaft bei der Stange zu halten und sie gleichzeitig mit Innovationen und neuen Entwicklungen zu begeistern. Wie Violier, Pras und Décotterd diesen heiklen Balanceakt schafften, das ist die wahre Story, darum geht’s.

DIE DREIFACHE STABÜBERGABE
DIE DREIFACHE STABÜBERGABE

HÔTEL DE VILLE, CRISSIER. BENOÎT VIOLIER.

Am Eingang der runderneuerten Küche, die mit ultramodernen Induktionskochfeldern glänzt (falls Sie sich in Ihrem Heim nach einer professionell ausgestatteten Küche sehnen, vergessen Sie sämtliche Gaskochherde; Induktionsherde der jüngsten Generation bieten mehr und schnellere Hitze sowie größere Präzision), erinnert ein Denkmal an die beiden Stabübergaben, die in Crissier stattfanden. An der schiefergrauen Wand sind linear die Namen „Girardet - Rochat - Violier“ aneinandergereiht. Bei Girardet handelt es sich selbstverständlich um Frédy Girardet, der das Restaurant 1971 gründete und entscheidend zur Entwicklung der Nouvelle Cuisine und zu ihrem Durchbruch in der Schweiz beitrug, bis ihm Gault & Millau schließlich den Titel „Koch des Jahrhunderts“ verlieh.

Die Erbfolge in Crissier verläuft eher kreisförmig als gradlinig, da Benoîts Stil eher jenem von Girardet als dem von Rochat entspricht. Dies ist keineswegs eine radikale Richtungsänderung, die Unterschiede sind vielmehr in Nuancen erkennbar. Rochats Küche wurde im Laufe seiner brillanten Karriere immer komplexer und durch exotisch-asiatische Aromen bereichert. Benoît tendiert mehr zu Girardets Pionier-Ethos mit leichteren, schnörkelloseren Zubereitungen und dem Verzicht auf gelegentliche asiatische Elemente.

Wie bei den andern beiden Nachfolger-Chefs bestätigen Benoît Violiers Referenzen, dass das „Hôtel de Ville“ sich in den richtigen Händen befindet: fünf Jahre als Nicolas Sarkozys Chefkoch während dessen Amtszeit als Finanzminister in den frühen neunziger Jahren; Chefpatissier beim berühmten Lenôtre in Paris, bei Joël Robuchon im „Jamin“, bei Alain Chapel in Mionnay (er war einer der ersten Pfeiler der Nouvelle Cuisine, seine brillante Drei-Sterne-Karriere endete mit dem frühen Tod 1990), Ankunft in Crissier 1996 in Frédy Girardets letztem Jahr, Beförderung zu Philippe Rochats rechter Hand 1999, Auszeichnung als „Un des Meilleurs Ouvriers de France“ im Jahr 2000. Violier selbst findet, er sei von Chapel, Robuchon und Girardet am stärksten in seiner Entwicklung beeinflusst worden und bezeichnet seinen heutigen Stil als „Weiterentwicklung von Chapel“.

DIE DREIFACHE STABÜBERGABE
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In seiner Küchenphilosophie steht der Respekt vor den Zutaten an erster Stelle. Nichts bleibt dem Zufall überlassen, da er persönlich mit seinen Lieferanten zusammenarbeitet, um sicher zu sein, dass er das Beste vom Besten erhält und sie sogar dazu bringt, die Qualität ihrer Produkte zu optimieren. Das ist allerdings die Richtlinie dieses Restaurants seit seiner Gründung anno 1971. Es gibt eine Verbindung zwischen seiner Obsession für Ingredienzien und der Leichtigkeit und Klarheit ihrer Zubereitung. Während Girardet mit dem Verzicht auf Mehl in Saucen neue Wege ging, reduziert Violier radikal die Verwendung von Sahne und Butter und setzt stattdessen auf konzentrierte Aromenträger. Sogar bei einem üblicherweise üppigen Dessert wie Schokoladenganache wurde die Butter des klassischen Rezepts durch hochkonzentrierte Milch ersetzt. Da asiatische Gewürze seiner Ansicht nach die natürlichen Aromen der Hauptzutaten überdecken, wurden sie aus der Küche verbannt.

Welche Leidenschaft und Energie Benoît Violier in Crissier einbringt, zeigte sich bei unserem Besuch vier Monate nach der Stabübernahme. Selbstverständlich konzipierte er drei vollständig neue Menüs, die alle den Stempel seiner Kochphilosophie tragen. Doch damit nicht genug: Über diese ambitionierte Leistung hinaus entwarf und leitete er die komplette Modernisierung der Speisesäle und des Gartens. „Renovation“ ist ein schwacher Ausdruck für die fast ver sessene Liebe zum Detail, mit der Violier die Räume neu gestaltete und einrichtete. Die Farbpalette ist nun wesentlich freundlicher und wärmer, mit hellem Holz und in Beigetönen gehaltenen Wänden. Als Gegensatz zum Holz und als moderner Touch setzen gebürstetes Metall und der schiefergraue Teppichboden subtile Akzente. Anstelle von Blumen stehen auf den Tischen Bären, Enten und Pinguine aus Baccarat-Kristallglas. Raffinierte, dezente Serviertische spiegeln den Dekor der Wände wider. Verborgen, aber effizient sind die Geräuschdämmung, die für angenehme Ruhe sorgt, und die individuell computergesteuerte Beleuchtung für jeden Tisch. Draußen ließ Violier Terrassen anlegen, die von einem japanisch inspirierten Garten umgeben sind.

Ormeau.

Ormeau.

Côtes d’Agneau.

Côtes d’Agneau.

Tronçon de Saint-Pierre.

Tronçon de Saint-Pierre.

PURISTISCH SCHLICHT, LEICHT UND BLENDEND FRISCH: DIE KÜCHE VON BENOÎT VIOLIER.

Drei neue Gerichte zeugen von der Gradlinigkeit, Leichtigkeit und Topfrische von Violiers Küche. Müsste ein einziger Gang seine Philosophie verkörpern, wäre das Gericht Mines trone iodé de moules de bouchot de la baie du Mont-SaintMichel „rafraîchies“ eine ausgezeichnete Wahl. Eine hellrote, kalte Sauce aus frischen Tomaten von außerirdischer Konzentration und Aromenfülle (Wie hat er das bloß fertiggebracht? Das war eindeutig keine eingekochte Reduktion von Tomatensaft, das Aroma war anders. Welche Methode führte zu diesem intensiven Geschmack?) umgab einen Hügel perfekt ausgelöster Muscheln, die mit winzigen, knusprigen Gemüsewürfeln bestreut und mit Spänen von Sommertrüffeln veredelt waren. Der Genius dieser Zubereitung ist die kompromisslose Intensität der Aromen in Verbindung mit einer erstaunlichen Leichtigkeit und Frische. Man könnte jedoch auch Violiers Kreation Œuf de poulette en chemise et petits légumes du moment cuisinés au jus de persil als Beispiel wählen. Ein pochiertes Ei, paniert mit knackig gegarten Kefen und Topinamburwürfelchen, das Ganze auf einem Bett von frischen Erbsen plaziert, die in einer intensiven, tiefgrünen Petersiliensauce baden. Raffiniert, leicht, frisch und intensiv. Das sind die Adjektive, die seine Küche am treffendsten beschreiben.

Ein brillanter Starter seines zweiten Menüs ist Ormeau, coques et palourdes de la baie de Morlaix. Minimalistische Eingriffe waren der Schlüssel zu diesem Gericht von Abalone, Venus- und Herzmuscheln in der Abaloneschale an einer unwahrscheinlich leichten Sauvignonsauce, die nur dazu diente, die natürliche Süße des Muschelfleisches hervorzuheben. Dasselbe Fingerspitzengefühl kam beim folgenden Gericht zum Ausdruck: Gelées ravigotées de crabe batailleur du phare de Chassiron en coque à l’osciètre impérial. Geliertes Taschenkrebsfleisch aus der Charente-Maritime, gekrönt mit einem großzügigen Schlag Oscietra-Kaviar, thronte auf einer von Grapefruit akzentuierten Muschelemulsion. Benoît Violiers Sensibilität für Nuancen war in jeder Dimension erkennbar. Die Grapefruit in der Sauce liefert einen Hauch Zitrusaroma, den einige Fenchelstücke mit erdiger Süße und Knusprigkeit ausgleichen, während der Kaviar den salzigen Kontrast zur Süße der Krabbe bildet.

Die warmen Fischgerichte erinnern ans Genie von Girardet, indem sie den klassischen Stil in ein modernes, leichtes Idiom übersetzen. Ein überwältigendes Beispiel ist Violiers Tronçon de saint-pierre de Port-en-Bessin flashé, persillade au citron de Nice et petite salade amère. Der knapp glasig gegarte Petersfisch war mit Streifen von intensivem Petersilienpüree dekoriert, so dass er an ein Zebra erinnerte, dazu gab’s eine fast leuchtende Fischfond-Zitrus-Emulsion. Faszinierend ist die perfekte Beschreibung für die Intensität und Tiefe des Geschmacks, die der Chef erzielt. Ebenso wuchtig ist der Bar de ligne de la Pointe du Raz poêlé sur peau, verjus de Féchy perlé à l’huile d’olive extra-vierge. Der auf der Haut gebratene Wolfsbarsch wurde mit einer Tempura von Frühlingszwiebeln und Zucchettiblüten serviert, begleitet von einer perfekt ausbalancierten Reduktion von Verjus und Fischfond, die mit einem Hauch eines bemerkenswert duftenden Olivenöls abgerundet war. Entscheidend bei diesem Gericht ist die Harmonie des süßlichen Fisches und der leicht säuerlichen Erdigkeit des reduzierten Verjus (ein aus noch grünen Trauben gewonnener Essig). Violiers Vorliebe für kontrastreiche Tex turen zeigte sich erneut bei der Sauce mit knusprigen Fenchel stückchen. Der Homard bleu de Bretagne étuvé, réduction coralline à la Folle Blanche war gleichzeitig klassisch und innovativ: Schwanz und Scheren auf den Punkt glasig gegart und durch einen klassischen Muschelfond akzentuiert, der mit ein paar Tropfen eines aus der Rebsorte Folle Blanche gebrannten Armagnacs abgerundet war.

Eine der großen Traditionen in Crissier ist das am Tisch tranchierte Geflügel. Sie wird vom Maître d’hôtel Louis Villeneuve in Ehren gehalten, einem Meister des Fachs, das die Franzosen découpage nennen. Er gehört zum Inventar und dirigiert weiterhin umsichtig den Service im Speisesaal. Den Fisch so zu garen, dass er gerade eben glasig auf den Tisch kommt, ist ein Test für die Präzision der Küche, genauso wie das Braten von Geflügel, insbesondere von Perlhuhn. Eine Minute zu wenig ist es unangenehm blutig; eine Minute zu lang ebenso unangenehm trocken. Violier trifft den Punkt genau mit einem herrlich braungebratenen Vogel, der zuerst auf der Servierplatte präsentiert wird, bevor Louis Villeneuve seine Tranchierkunst vorführt. Die Brust und das Sot-l’y-laisse werden mit einer Sauce aus Perlhuhnfond, ein wenig Kalbsfond (um sie reichhaltiger zu machen), Steinpilzen und etwas Thymian angerichtet. Ein Maßstab für die Konzentration eines Weins ist die Länge am Gaumen nach dem Hinunterschlucken, und dasselbe gilt für die Sauce. Diese war derart kraftvoll, dass sie gut eine Minute im Mund nachklang. Der zweite Service des Ober- und Unterschenkels respektierte eine lange CrissierTradition, indem dieselbe intensive Sauce mit einem dekadent üppigen Kartoffelpüree gereicht wurde.

Benoît Violiers Lamm, Côtes d’agneau des Alpes de HauteProvence poêlées au thym sauvage, verdient allein schon einen Besuch. Das mit Thymian gebratene Rack ist in zwei Beziehungen verblüffend. Da ist zuerst einmal der unglaublich kleine Durchmesser von Fleisch und Knochen eines Lamms, das offenbar nur wenige Tage nach seiner Geburt mit seinem Metzger Bekanntschaft gemacht hatte. Dann seine Textur. Selbstverständlich verlangen es die Regeln der gepflegten Gastlichkeit und des Anstands, dass ein Messer aufgedeckt wird, doch bei diesem Gang fehlt jeder andere Grund. Anders gesagt: Das Fleisch ist so zart, dass allein schon das Gewicht der Gabel genügt, es zu zerteilen.

Auch die Desserts zeichneten sich durch Leichtigkeit und Geschmacksintensität aus. Die Bouchée de pêche de vigne à la verveine ist ein Paradebeispiel. Ein schmaler Turm aus perfekt ausgereiften Weinbergpfi rsichen war mit einer Verveinemousse mit Limonenzesten gefüllt. Die Basis des Turms bildete ein Pfirsichpüree. Violier, vollständig fasziniert von gegensätz lichen Texturen, reichert das Püree mit Mandelstückchen und Sablé-Bröseln an. Ebenso bemerkenswert waren die Croquants de framboises, rafraîchis au citron yuzu. Die Himbeeren waren gewaltig und erinnerten an Woody Allens Filmkomödie Sleeper, in dem er einen Wächter mit einer riesigen Himbeere bewusstlos schlägt. Jede der drei Beeren war mit einer winzigen Tarte gekrönt, die wiederum mit einem Himbeergelee-Kraftpaket gefüllt war (und außerdem mit Mandelsplittern als Beleg für die Liebe des Chefs zum Knuspereffekt); daneben lagen ein mit Limonenzesten gesprenkeltes Yuzuparfait, etwas Himbeergelee und ein Himbeersorbet.

DIE DREIFACHE STABÜBERGABE
DIE DREIFACHE STABÜBERGABE

LAMELOISE, CHAGNY. ERIC PRAS.

Obwohl Eric Pras’ dreijährige Zusammenarbeit mit Jacques Lameloise kürzer war als Violiers fünfzehn Jahre mit Rochat oder Décotterds zehn Jahre mit Rabaey, kann sich seine Laufbahn vor der Stabübergabe mit jener der beiden andern durchaus messen. Wie Violier erhielt er die begehrte Auszeichnung „Un des Meilleurs Ouvriers de France“. Die namhaftesten Anlaufstellen vor seiner Ankunft bei Lameloise 2008 waren Troisgros in Roanne (zur Zeit, als Vater Pierre und Sohn Michel gemeinsam am Herd standen), „Buerehiesel“ mit Antoine Westermann in Straßburg sowie Régis und Jacques Marcon in Saint-Bonnet-le-Froid in der nördlichen Ardèche.

Bemerkenswert ist, dass Jacques Lameloise von Anfang an Erics Innovationen gegenüber offen war. Ein gefeierter Klassiker nach dem andern wurde behutsam erneuert und verfeinert. Ein Beispiel ist die Tarte fine aux pommes avec sorbet granny smith, die seit Jahrzehnten auf der Dessertkarte als Richtwert für Apfeltartes fungierte und von Pras durch eine durchdachte Änderung in noch höhere Sphären befördert wurde. Früher hatte man das Sorbet daneben angerichtet, weil man es nicht direkt auf den warmen Kuchen setzen wollte. Pras’ Lösung: Er errichtete in der Mitte einen kleinen Hügel von Apfelstückchen, um darauf das Sorbet zu plazieren und es gleichzeitig vor der Hitze zu schützen. Voilà, eine dezente, aber effi ziente Korrektur.

Heute ist die Karte des „Lameloise“ eine Mischung von Pras’ Originalkreationen, die viel Verständnis und Wertschätzung für die Traditionen des Restaurants verraten, und überarbeiteten Klassikern, wobei die Neuschöpfungen überwiegen.

Eine der reizvollen Gewohnheiten des Hauses ist, dass die Gäste die Bestellung im Salon aufgeben und dort auch den Aperitif trinken, bevor sie an den Tisch geführt werden. Es versteht sich von selbst, dass diese Gepflogenheit im „Lameloise“ von einer großzügigen Platte von Appetithäppchen begleitet wird. Pras hat sie vollständig erneuert. Seine Handschrift tragen – um nur einige wenige zu nennen – eine brillante Cherrytomate mit Schnecken-Petersilien-Füllung, marinierte Sardinen mit frischem Ziegenkäse und Zucchini, gerollter Räucherlachs mit Quinoa und ein hervorragendes „Sandwich“ von einheimischer Wurst, Cornichon und Butter. Obwohl diese delikaten Häppchen je nach Saison variieren, gibt es einen Fixpunkt, der durch seine Genialität stets verblüfft: mit Schnecken aromatisiertes Popcorn.

Eine weitere fürs „Lameloise“ typische Tradition ist die außergewöhnliche Kontinuität des Servicepersonals. Im Lauf des knappen Vierteljahrhunderts meiner Besuche verlief der Wechsel der Maîtres d’hôtel (abends sind es jeweils mehrere) sehr langsam, und meist war das Alter beziehungsweise der Ruhestand der Grund. Das hat sich unverändert in die Pras-Ära übertragen, so dass die Habitués getrost damit rechnen können, von vertrauten Gesichtern herzlich begrüßt und umsorgt zu werden.

Die im Salon gereichten Amuse-bouche schließen die im Speisesaal servierten Häppchen keineswegs aus. Eric Pras offenbart sein Talent mit einem Sommerstarter von der Cavaillon-Melone. Statt sie mit Schinken zu kombinieren, fand er eine frischere Variante, indem er die feinen Melonenstreifen auf frischem Ziegenkäse anrichtet, der mit einigen kaum spürbaren Tropfen Balsamico und Kräutern gewürzt sowie einem Gläschen Melonensaft mit Estragoninfusion serviert wird.

Appetithäppchen, so überzeugend sie auch sind, können die Evolution der „Lameloise“-Küche unter dem neuen Chef nicht voll und ganz illustrieren. Seine Foie gras en robe de pommes de terre et choux en vapeur hingegen ist exemplarisch für eine vollständig neue Kreation, die jedoch seinen Respekt vor dem Geist von Jacques Lameloise bezeugt. Das Haus bot seit längerem warme Foie gras an, doch sie wurden vorher noch nie en vapeur gegart. Pras’ Methode verleiht der Leber eine ätherische Textur, so dass sie beinahe über der Platte schwebt und am Gaumen verdampft. Begleitet von Sommertrüffeln und einer intensiven Trüffelsauce, schlägt das Gericht eine Brücke zur Tradition der Großzügigkeit des Hauses: Ein Schälchen Sauce bleibt stets zur Selbstbedienung auf dem Tisch.

DIE DREIFACHE STABÜBERGABE
DIE DREIFACHE STABÜBERGABE

ERIC PRAS HAT DIE KLASSIKER ERNEUERT UND EIGENE KREATIONEN EINGEFÜHRT, WELCHE DIE TRADITIONEN DES RESTAURANTS RESPEKTIEREN.

Chaud et froid de langoustine au jus de pomme verte, crème légère à la moutarde Fallot / caviar d’Aquitaine hat einen ständigen Platz auf der Menükarte. Seite an Seite liegen eine immens große Langustine in einem knusprigen Puffreismantel und ein delikates Langustinentatar auf einem Spiegel von grünem Apfelgelee. Die subtile Säure des Apfels bildet einen perfekten Gegensatz zum Tatar, der vom Kaviar und der außer gewöhnlich feinen Senfcreme noch gesteigert wird.

Auch die Steinbuttrezepte wurden überarbeitet. Eric Pras brachte das Vakuumgaren nach Chagny. Ein Beispiel ist der Turbot sauvage de nos côtes et couteaux, cuit en vapeur douce /rhubarbe, radis et mayonnaise chaude à la moutarde de verveine. Die Vakuummethode ermöglicht nicht nur hochpräzises Garen, sie bewahrt auch die natürliche Textur des Fischs, da er nie großer Hitze ausgesetzt ist. Die Erde kommt mit dem süßen Rhabarber ins Spiel, das Meer mit den süßlichen Messermuscheln; gemildert wird dies alles durch die raffinierte warme Senfmayonnaise (die heute eher einer leichten Zabaione ähnelt), die beides in Schach hält und mit dem Steinbutt vermählt.

Während die Foie gras und der Steinbutt vollständig neue Kreationen sind, ist der Pigeon en vessie ein „Lameloise“- Klassiker, der komplett neu überarbeitet wurde. Früher wurde die ganze Taube in einer Schweinsblase gegart, zusammen mit einer reichhaltigen, auf Sahne basierenden Foie-grasSauce. Eric Pras modernisierte das Gericht, indem er auf die Sahne verzichtet und lediglich die beiden Bruststücke mit einem durch Portwein und Foie gras angereicherten Taubenfond serviert. Mit den Tauben selbst wird eine alte Beziehung weitergeführt, die zwischen Jacques Lameloise und dem Produzenten Michon in der Bresse bestand. Dessen Geflügel ist unvergleichlich. Um ein optimales Ergebnis zu garantieren, setzt Pras wie so oft auf das Vakuumverfahren. Die perfekt saignant gegarten Brüste liegen neben Teigwarentürmchen, die mit Spinat und gewürfelten Artischockenherzen gefüllt und mit feingeschnittenen Trüffeln bestreut sind. Diese Neukonzeption bietet bei jedem Bissen ein dekadentes Vergnügen – eine ätherisch zarte Taube, eine majestätische Sauce und das von Artischocken verstärkte Trüffelaroma. Selbst die separat mit gemischtem Wurzelgemüse servierten Schenkel bereiten Vergnügen.

Die Dessertkarte ist eine Kombination von unveränderten Standards und Neukreationen. Die Stammkunden würden auf die Straße gehen, wenn der „Lameloise“-Klassiker Crêpes Suzette flambées devant vous au Grand Marnier, glace vanille et chocolat nicht mehr auf der Karte stünde. Wie angekündigt werden die Crêpes am Tisch mit einem imposanten Feuerwerk fertiggestellt. Eine Neuheit ist die Pêche jaune sur l’idée d’une Melba. Obschon der Aufbau kompliziert ist, bildet diese Innovation den idealen Abschluss eines großen Mahls. Eine saftige, mit Gelee überzogene und mit Vanille-Panna-cotta gefüllte Pfirsichhälfte liegt auf einem Sockel von Pain perdu. Das Ganze ruht auf einem intensiven Blutorangenpüree und ist mit einem Himbeersorbet gekrönt.

Pigeon en vessie.

Pigeon en vessie.

Foie gras en robe de pomme de terre, Langoustines chaud & froid.

Foie gras en robe de pomme de terre, Langoustines chaud & froid.

LE PONT DE BRENT, MONTREUX. STÉPHANE DÉCOTTERD.

Der Weg, um die Zügel von einer Ikone wie Gérard Rabaey zu übernehmen, ist niemals kurz. Stéphane Décotterd absolvierte die Kochlehre im „Le Petit“ von André Minder (15 Gault & Millau-Punkte) im benachbarten Saint-Légier. Dann arbeitete er vier Jahre lang im berühmten „Lausanne Palace“ und kurz in Fribourg bei Pierre-André Ayer, bevor er 1998 bei Rabaey im „Pont de Brent“ eintrat, wo er zwei Jahre später die Sommelière Stéphanie kennenlernte, seine künftige Frau. Das Paar ging 2003 für zwei Jahre in ein Relais & Château südlich von Montréal, gefolgt von einem abschließenden einmonatigen Trip durch Nordamerika, bevor er wieder bei Rabaey anheuerte. 2008 gewann er als bester Schweizer Jungkoch den Kadi d’Or und erreichte im folgenden Jahr den fünften Platz des europäischen Bocuse d’Or in Lyon.

Wie seine beiden Kollegen ist sich Stéphane Décotterd deutlich der Schwierigkeit bewusst, die stolzen Traditionen von Rabaey zu bewahren und gleichzeitig seine eigene Kreativität zu entwickeln und auszuleben. Er war besonders sensibilisiert für die Gefahren des radikalen Wechsels, da Stéphanie in Straßburg miterlebte, wie das berühmte Restaurant Crocodile nach einem allzu ambitionierten Kartenwechsel, der die Stammkundschaft vergrämte, Konkurs ging (heute ist das Haus unter Philippe Bohrer offenbar wieder auf Kurs). Décotterd wandte bei der Anpassung der Restauranttradition an seine eigene Philosophie ein geschicktes und durchdachtes Konzept an, wobei er bekräftigt, dass sich seine Vorstellungen von guter Küche mit jenen von Rabaey decken.

Der Auftakt im „Pont de Brent“ ist ein Steilstart, da einem zum Aperitif (sehr empfehlenswert ist der Champagner mit Weinbergpfirsich-Likör) die folgenreiche Wahl von Speisen und Wein durch eine Parade unwiderstehlicher Appetithäppchen erleichtert wird, in unserem Fall Beignet de fromage (bemerkenswert das intensive Käsearoma), Tarte aux légumes, Tourteau en feuilleté, Gelée de lapin à l’estragon und ein Croustillant de ris de veau au poireau.

Stéphane Décotterds L’aile de raie aux légumes grecs demonstriert den doppelten Imperativ seiner eigenen Kreativität und der Treue zu Rabaeys Philosophie. Der Rochen, ein Markenzeichen Rabaeys, kam wie immer topfrisch auf den Tisch, aber neuerdings an einer ebenso aromareichen wie federleichten Kressesauce.

Eine Andeutung der Abenteuer, die einen erwarten, wenn sich ein Restaurant weiterentwickelt, war die folgende Vinaigrette de homard au concombre et raifort. Normalerweise bin ich nicht sehr angetan von Chaud-froid-Kombinationen, doch diese gefiel mir so gut, dass sich jeglicher reflexartige Widerstand in Luft auflöste. Der Gang war in jeder Beziehung exzellent. Die warme Hälfte auf dem Teller bot einen perfekt glasig gegarten Hummerschwanz, der mit einem Bett von Gurkenwürfeln und einer von Hummerfond dominierten Vinaigrette serviert wurde. Das Gegenüber bildeten zwei mit Hummer tatar gefüllte Gurken-„Cannelloni“, begleitet von einer mit Fingers pitzengefühl abgeschmeckten Meerrettichsauce.

Das Faszinierende dieses Gerichts war die Art und Weise, wie die Gurke als Nebendarstellerin die beiden Hummerzubereitungen vernetzte.

Décotterds neuer Stil entfaltete sich besonders deutlich bei seiner Soupe aux pétoncles et coquillages au fenouil. Vieles erinnerte dabei an Rabaeys Fischgerichte und seine Saucen mit unwahrscheinlich delikaten kleinen Muscheln. Sie brachten diesem Gericht Tiefe und betonten die Süße der pétoncles (Kleine Pilgermuschel) ebenso wie die kleinen Kaviarhäufchen. Doch was das Süppchen speziell auszeichnete, war die Fenchel emulsion, die das Aroma der Muscheln unterstrich.

Das vollständig neue Fischgericht Le filet de rouget barbet au romarin „Arancino de Maria“ aux supions ist eine Meisterleistung. Im Mittelpunkt stehen natürlich die Rotbarben; sie werden auf der Haut knusprig gebraten und sind auf der Unterseite gerade genug erhitzt, damit sie die erwünschte Festigkeit aufweisen. Eine Symphonie mediterraner Aromen liefern die Tomaten (Arancino de Maria), die zu einem kräftigen Confit reduziert und mit Rosmarin parfümiert werden. Das Ganze rundet ein Fond ab, der mit der Fischleber angereichert wird und die auf den Punkt gebratene Rotbarbe perfekt ergänzt.

DIE DREIFACHE STABÜBERGABE
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DER AUFTAKT IM „PONT DE BRENT“ IST WIE GEWOHNT EIN STEILSTART.

Zu den Dauerbrennern, die im „Pont de Brent“ jahrzehntelang auf der Karte standen, gehörten je nach Jahreszeit Froschschenkel, Milken und Morcheln in Verbindung mit den folgenden Komponenten: ein reichhaltiger Kalbsfond, Petersilie und ein leichter Schaum. Diese Tradition kam ideal zum Tragen bei den Morilles farcies au foie gras et aux asperges vertes. Ein weiterer Fels in der Brandung sind die Fleurs de courgettes farcies aux cuisses de grenouilles, roquette et parmesan. Gefüllte Zucchettiblüten sind wir gewohnt, doch nicht so. Statt die Blüte mit einem abstumpfenden Aroma zu füllen – haben wir alle genug Käsefüllung abgekriegt? – verstärkt Décotterd die Geschmacksintensität mit einem Würfel Zucchetti, fein abgestimmten Kräutern und entbeinten Froschschenkeln. Der Effekt ist erhebend, da diese Zubereitungsart Geschmacks- und Texturschichten aufbaut – Zucchetti (die Blüte und der Gemüsewürfel steigern sich gegenseitig), reicher Kalbsfond, delikate Fleischaromen der Froschschenkel, eine Spitze pfeffriger Rucola und der beinahe durchsichtige Käse, der die genau richtige Salznote beiträgt.

Einen anderen Klassiker des Hauses veränderte Décotterd nicht: die ganze Ente, perfekt saignant gebraten und am Tisch zerlegt. Bloß eine Handvoll Restaurants rund um den Globus beherrschen die gekonnte Zubereitung dieses geradezu dekadent üppigen und unvorstellbar zarten Gerichts. Der Genuss folgt dem Spektakel der Präsentation des mahagonibraun glänzenden Vogels, der vor den Augen der Gäste tranchiert wird (was stets von beifälligen Kommentaren an den Nachbartischen begleitet ist). Natürlich gibt es auch hier einen zweiten Service der Schenkel, der diesmal von einem Salat mit leichtem Walnussöldressing begleitet wird.

Ein Element des „Pont de Brent“-Rituals war schon bald unter Décotterds Leitung verändert worden: der Käsegang. Die schlichtweg beeindruckende Auswahl besteht nun ausschließlich aus Schweizer Käsesorten. Zwei immer vorhandene Höhepunkte sind der drei Jahre lang gereifte Gruyère caramel und der Tomme de Rougemont.

Sogar das kleine Menü im „Pont de Brent“ bietet zwei Desserts (nicht eingerechnet die Petits-fours und die Pralinés zum Schluss). Ein neueres Beispiel ist das Mangotrio: ein hocharomatisches Sorbet, eine Meringue mit Kokosnussakzenten und eine berückende Tarte Tatin. Diesem imposanten Gang folgte eine Rhabarbertarte, flankiert von einer Vanilleglace und einem Rhabarbersorbet.

An einem anderen Abend kam La pêche jaune au cœur fondant, en „carpaccio“ et sorbet – ein Traum für Pfirsichliebhaber! Nicht weniger als drei Pfirsichvarianten formten ein innovatives Ganzes. Die Basis bildete das Carpaccio aus saftigem, vollendet reifem Pfirsich, darauf stand ein Zylinder aus Nusskruste mit Pfirsichsorbet, auf dem wiederum eine Kugel aus weißer Schokolade mit Pfirsichmousse und frischen Pfirsichwürfeln balancierte. Die Kombination war eine glänzende Inkarnation des Sommers. Dabei wirkte die weiße Schokolade besonders raffiniert, da sie für Süße und Komplexität sorgte, ohne den Pfirsich zu übertönen.

Es ist erfreulich, dass in allen drei Restaurants die Herausforderung des Chefwechsels mit großem Elan und höchst erfolgreich bewältigt wurde. Wir halten den „Neuen“ wie ihren Vorgängern unvermindert die Treue. Das „Hôtel de Ville“, das „Lameloise“ und „Le Pont de Brent“ gehören ganz eindeutig zu den besten Restaurants der Welt.

Vinaigrette de Homard.

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Filet de Rouget Barbet.

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Kapitel 06

DAMASQUINAGE

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