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Kapitel 7

DIE PITCAIRN- INSELN

Eine Expedition zum Zufluchtsort der berühmten Bounty-Meuterer

Autoren der Kapitel

DR. ENRIC SALA

Autoren der Kapitel

DR. ENRIC SALA
DIE PITCAIRN- INSELN
DIE PITCAIRN- INSELN
Ausgabe 12 Kapitel 7
Der üppige Pandanus-Wald von Pitcairn.

Der üppige Pandanus-Wald von Pitcairn.

Ich saß auf einer Insel fest, umgeben von Tausenden Meilen gnadenloser See. Ich hatte kein Schiff, und es fuhren keine Schiffe hierher. Ich war von der übrigen Welt isoliert, von allem, was ich geliebt und ersehnt hatte, in einem Gefängnis ohne Gitter, auf der Spitze eines schwarzen Felsens, der von steilen Klippen umgeben war. Die Wellen schlugen unaufhörlich gegen die Insel, trugen sie nach und nach ab und erfüllten die Atmosphäre mit einem schrecklichen Geräusch. Ich konnte nicht fl iehen und verlor jegliche Hoffnung, je wieder nach Hause zu kommen. Mein Herz hämmerte wie eine Trommel, Panik überfi el mich, und dann ... wachte ich auf, lag schweiß gebadet im Bett, Stille umfi ng mich mitten in einer ruhigen Nacht. Der Mond hatte das Meer mit einem zarten, silbernen Schimmer bemalt, und ein leichter Wind streichelte die Palm wedel vor dem Fenster. Ich war auf einer Insel, aber sie war kein Gefängnis. Ich war aus freiem Willen hier.

Mein Alptraum versetzte mich zurück ins Jahr 1790, als eine Handvoll britischer Meuterer, angeführt von Fletcher Christian, auf der Insel Pitcairn im Südpazifi k landeten. Sie waren vor der Justiz Ihrer Majestät mit der berühmt-berüchtigten HMS Bounty hierher gefl üchtet, nachdem sie ihren Schinder-Kapitän Bligh überwältigt und in einem Ruderboot ausgesetzt hatten. Nach der Ankunft der Meuterer und einer Gruppe Tahitianerinnen und Tahitianer auf der bislang unbewohnten Insel fackelten sie sogleich ihr Schiff ab, das im seichten Riff versank und keine sichtbaren Spuren hinterließ. An diesem Tag unterzeichneten sie ihre lebenslange Freiheitsstrafe in der Hoffnung, nie von den vorbeifahrenden Schiffen entdeckt zu werden. Das Risiko war sowieso gering, weil der britische Entdecker der Insel, Seekadett Robert Pitcairn, und sein Kapitän sie 1767 irrtümlicherweise 200 Meilen von ihrem wirklichen Standort entfernt kartiert hatten. Nach der Überlieferung soll Fletcher Christian häufi g von einer Höhle auf den Klippen aus übers Meer geblickt und über seine Tat nachgedacht haben. Vielleicht war ich während der ersten Nacht auf der Insel kurz in seine Person geschlüpft ...

Pitcairn gehört dank den durch Erzählungen und Filme verewigten Meuterern zum kollektiven Gedächtnis des Abendlandes. Ich war jedoch wegen etwas Größerem dort, etwas mit einer noch längeren Geschichte, von der ich berichten wollte. Meine Aufgabe bestand darin, die Unterwasserwelt von Pitcairn und den drei dazugehörigen unbewohnten Nachbarinseln zu erkunden: eine Welt, die noch kein Mensch zuvor erforscht hatte. 

Gesunde Korallenriffe um Henderson.

Gesunde Korallenriffe um Henderson.

Im März 2012 leitete ich eine Expedition der National Geographic Society zu den Pitcairn Islands, dem einzigen Überseeterritorium Großbritanniens im Pazifi k. Wir arbeiteten mit der Pew Environment Group zusammen, einer amerika nischen Umweltschutzorganisation, um den Gesundheits zustand des marinen Ökosystems rund um die Inseln zu beurteilen.

Pitcairn, Ducie, Henderson und Oeno sind eines der entlegensten Archipele unseres Planeten. Auf Pitcairn leben nur etwa fünfzig Menschen, die meisten sind Nachfahren der Meuterer der Bounty und ihrer tahitischen Gefährten. Die drei anderen Inseln sind unbewohnt. Ein Besuch ist nicht einfach. Flughäfen gibt es keine, und Pitcairn wird lediglich viermal pro Jahr von einem Schiff mit regelmäßigem Fahrplan angesteuert. Die Reise nach Pitcairn ist eine Fahrt zurück in eine Zeit, in der alles noch etwas länger dauerte, was die Dinge neu gewichtet. Dort draußen erkennt man, was wirklich wichtig ist. Von Tahiti aus nahmen wir das wöchentlich verkehrende Flugzeug nach Mangareva, einem Atoll der Gambierinseln, des südöstlichsten Archipels von Französisch-Polynesien. Dort erwartete uns die Claymore II, ein neuseeländisches Schiff. Es benötigte eine Nacht, einen Tag und noch eine Nacht bis Pitcairn. Während der Überfahrt rollte das Schiff unentwegt und überwand Dünungen von der Größe eines zweistöckigen Hauses. Sie waren lang und kamen von der Antarktis her, wo gewaltige Stürme die Kräfte des Ozeans entfesseln. Diese Dünungen wirken sich in nördlicher Richtung bis nach Hawaii aus, wo sie die Surfer erfreuen. Bei uns lösten sie hingegen andere Gefühle aus. Unsere Mägen und Schädel rebellierten gegen sie, wir kauerten nieder, um bis zur Landung zu „überwintern“.

Am Morgen des zweiten Tags sahen wir Pitcairn in der Dämmerung auftauchen. Der Himmel war bleifarben, die Insel dunkel und imposant wie eine unbezwingbare Festung. Als wir näherkamen, verwandelte sich das uniforme Schwarz in grüne, braune und rote Farbtöne, die auf umfangreiche Erdrutsche hindeuteten. Später berichteten uns die Einheimischen, dass sie vor einem Monat den heftigsten Regen seit Jahrzehnten erlebt hatten. In einem einzigen Tag sei mehr Wasser vom Himmel gefallen als im ganzen letzten Jahr, worauf viel kostbares Erdreich ins Meer gestürzt war. Deshalb umgab ein Hof aus braunem Wasser die ganze Insel. Die Sichtweite beim Tauchen betrug weniger als einen Meter, so dass wissenschaftliches Arbeiten und Filmen unter diesen Umständen unmöglich erschien. Außerdem war die Brandung an der Steilküste sehr stark und zum Tauchen zu gefährlich. Ich fragte mich: „Was sollen wir tun? Wir haben die lange Reise hierher unternommen, um festzustellen, dass wir unsere Arbeit nicht durchführen können.“ Für einen Augenblick fühlte ich mich von den Launen der Natur besiegt.

„... NACH DIESER LANGEN REISE SCHIEN ES UNMÖGLICH, UNSERE ARBEIT DURCHZUFÜHREN.“ FÜR EINEN AUGENBLICK FÜHLTE ICH MICH VON DEN LAUNEN DER NATUR BESIEGT.

Um das Beste aus der Situation zu machen, beschlossen wir, anderntags das Ducie-Atoll zu besuchen, die abgelegenste Insel des Archipels, und danach die Henderson-Insel. Wir hofften, dass sich bis in zwei Wochen die Wet terlage gebessert und das Küstenwasser soweit geklärt haben würde, dass wir tauchen könnten. Für den Rest des Tages beschlossen wir, das Meer außerhalb dieses trüben Brackwasserbereichs zu erforschen. Süß- und Salzwasser vermischen sich nicht leicht, da Süßwasser weniger dicht ist. Deshalb schwimmt das ins Meer gespülte Regenwasser mit all den Sedimenten obenauf, und wir konnten hoffen, etwas weiter draußen und in größerer Tiefe klareres Wasser zu fi nden. Wir sprangen in unsere Schlauchboote und fuhren ungefähr einen Kilometer hinaus. Die Linie zwischen dem braunen Wasser vor der Insel und dem klaren Wasser des Ozeans war sauber und präzis, ohne fl ießenden Übergang. Wir steuerten die Boote in den Blauwasserbereich und tauchten. Alsbald erlebten wir unsere erste Überraschung.

Von der Oberfl äche aus konnten wir den Meeresgrund in 30 Metern Tiefe deutlich erkennen. Er war von einem ge sunden Korallenriff überzogen. Wir tauchten ins klare Blau hinunter, als wären wir vom Himmel gefallen. Die extreme Weitsicht war im Vergleich zur trüben Brühe im Küstenbereich schier unglaublich. Beim Riff angelangt, entdeckten wir, dass lebende Korallen mehr als einen Viertel des Meeresbodens bedeckten. Wir tauchten über den Riffrand tiefer, da die Korallen sich offenbar bis in eine Tiefe von 45 Metern erstreckten. Es gab viele Fische, und ein neugieriger schwarzer Kuhbarsch umkreiste uns in raschem Tempo. Nanwe-Fische – so heißen die Ruderbarsche im mit polynesischen Wörtern gemischten Pitcairn-Englisch – schossen überall herum, knabberten an Algenrasen und zogen dann im Schwarm zum nächsten Weidegrund. Die Korallenstöcke sind hier bis in eine ungewöhnliche Tiefe hinab mit lebenden Polypen besetzt, und die wahrscheinlichste Erklärung dafür dürfte die außergewöhnliche Klarheit des Wassers sein. 

In der Lagune von Oeno wimmelt es von Riesenmuscheln.

In der Lagune von Oeno wimmelt es von Riesenmuscheln.

Die Weißmaul-Muräne.

Die Weißmaul-Muräne.

DIE PITCAIRN- INSELN

DIE VON NATUR AUS NEUGIERIGEN HAIE GEHÖRTEN IMMER ZU DEN ERSTEN BEUTEGREIFERN, DIE UNS BEIM TAUCHEN IN DEN GUTERHALTENEN KORALLENRIFFEN INSPIZIERTEN.

Das Meer lehrte uns wieder einmal etwas. Wer Hindernisse als Chance betrachtet, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, liegt richtig. Weil wir beschlossen hatten, außerhalb des Brackwassers zu tauchen, entdeckten wir ein Riff, das wir nie gefunden hätten, wenn das Tauchen in Küsten nähe möglich gewesen wäre.

Wir brauchten nochmals anderthalb Tage, bis wir Ducie erreichten. Das Wetter besserte sich, und für einige Tage hatten wir einen leuchtend blauen Himmel, der mit dem tiefen Dunkelblau des Meeres wetteiferte. Ducie ist die Spitze eines ehemaligen Vulkans, der vor rund acht Millionen Jahren vom Meeresgrund emporgewachsen war, zu Zeiten, als sich die Abstammungslinien des Menschen und der Schimpansen von einem gemeinsamen Vorfahren trennten. Der moderne Mensch erreichte Ducie nicht vor 1606, als der portugiesische Seefahrer Pedro Fernandes de Queirós diese Insel und Henderson für die spanische Krone in Besitz nahm. Sogar bei ruhigem Seegang ist es nicht einfach, Ducie zu sehen. Aus wenigen Meilen Entfernung erscheint Ducie lediglich als ein flacher Streifen am Horizont, und die Insel ist ja auch nur knapp fünf Meter hoch. Ein Wunder, dass der Seefahrer sie überhaupt entdeckt hatte.

Große Beutegreifer wie der Grauhai und der Weißspitzen-Hochseehai dominieren das ozeanische Ökosystem rund um die Inseln Ducie und Henderson.

Große Beutegreifer wie der Grauhai und der Weißspitzen-Hochseehai dominieren das ozeanische Ökosystem rund um die Inseln Ducie und Henderson.

Der Küstenbereich von Ducie übertraf all unsere Erwar t ungen. Ich habe noch nie so blaues, kristallklares Wasser gesehen. Wir konnten einander unter Wasser auf eine Entfernung von 75 Metern erkennen! Hier zu tauchen war ein einzig artiges Erlebnis. Ich habe mich oft gefragt, was geschehen würde, wenn wir plötzlich ohne Flugzeuge und andere Hilfsmittel fl iegen könnten. Wären wir fähig, Schwindelgefühl und Höhenangst zu überwinden? Würden unsere landgebundenen Körper versuchen, sich an feste Oberflächen zu klammern? In Ducie vergaß ich diese Gedanken, denn ich realisierte, dass ich wirklich flog. Bloß der Atemregler auf meinem Mund erinnerte mich daran, unter Wasser zu sein.

Und so flogen wir von unseren Schlauchbooten, die wie Raumschiffe wirkten, die bewegungslos am Himmel hängen, in die Tiefe. Beim Tauchen in Ducie betraten wir das Paradies. So weit wir sehen konnten, breitete sich eine sanfte Hügellandschaft aus, ein unberührtes Riff mit hellblauen Korallen, die aussahen wie riesige Rosen und den ganzen Boden bedeckten. Dieses Korallenriff ist ein evolutionäres Wunder, das Ergebnis von Millionen Jahren biologischem Versuch und Irrtum. Diese Unverdorbenheit ist auch eine Folge der Isolation. Je weiter die Natur vom menschlichen Tun entfernt ist, desto spektakulärer ist sie geblieben.

Wir tauchten mit Kreislauf-Atemgeräten, die den aus geatmeten Sauerstoff rezyklieren, so dass man bis zu vier Stunden im Wasser bleiben kann, ohne aufzutauchen. Und vor allem produzierten wir keine Bläschen, weshalb wir noch näher an die Meereslebewesen herankamen. Weil Ducie so abgelegen ist und wenig besucht wird, haben die meisten Fische, Haie eingeschlossen, wahrscheinlich noch nie Menschen gesehen. Jedesmal, wenn wir in einem unberührten Riff tauchten, gehörten die von Natur aus neugierigen Haie denn auch zu den ersten großen Beutegreifern, die erschienen, um uns unter die Lupe zu nehmen.

 

DIE PITCAIRN- INSELN
DIE PITCAIRN- INSELN

Als wir uns von der Erscheinung des hellblauen Riffs wieder erholt hatten, bemerkten wir, dass wir von Tausenden Nanwe umkreist wurden. Dieser Ruderbarsch frisst Algen und schwimmt deshalb normalerweise nahe über dem Meeresboden. Seine Vertreter rund um Ducie zeigen jedoch ein anderes Verhalten: Sie schießen unisono an die Oberfläche hinauf und wieder zurück zum Grund, als wären sie auf einer Achterbahn. Inmitten der Nanwe sahen wir unsere ersten Haie, genauer: Graue Riffhaie. Als sie in unsere Richtung schwammen, öffneten sich Löcher in den Nanwe-Wolken. Doch die großen Jäger lösten bei ihnen keine Panik aus, die Barsche reagierten gelassen, als ob sie wüssten, dass die Haie mehr an uns interessiert waren, als daran, sie zu fressen.

Wissenschaftler, die früher Ducie besucht hatten, berichteten von „aggressiven Haien“, wir erlebten jedoch nichts Derartiges. Tatsächlich gehörten die Haie von Ducie zu den freundlichsten, die ich je getroffen habe. Sie waren überaus neugierig und kamen bei jedem Tauchgang angeschwommen, um uns zu besichtigen, manchmal so nah, dass sie mit der Schnauze an unsere Kameras stießen, doch wir fühlten uns von ihnen nie bedroht. Während junge Haie sich wie freche, alberne Teenager benehmen, sind ausgewachsene vorsichtig und nähern sich Tauchern ausgesprochen langsam. Sie umkreisen einen andauernd in einer endlos wirkenden Spirale, die nie das Zentrum zu erreichen scheint. Und da brüske Bewegungen sie erschrecken, muss man ruhig bleiben, um ihre Schönheit wirklich bewundern zu können.

Neue Oktopusart

Neue Oktopusart

AUS DER FERNE WIRKT DIE INSEL HENDERSON MIT IHREN 33 METER HOHEN, SENKRECHTEN KLIPPEN WIE EIN TISCH.

Wir verbrachten fünf unvergessliche Tage in Ducie, tauchten, vermaßen und filmten. Unsere Studien ergaben, dass mehr als die Hälfte des Riffs aus gesunden Korallen bestand. An einigen Plätzen wie unserem hellblauen Traumriff überzogen die Korallen den gesamten Grund. Das ist heutzutage außergewöhnlich. In der Karibik ist es beispielsweise schwierig, ein Riff zu finden, das zu mehr als fünf Prozent mit lebenden Korallen bedeckt ist. Fische kommen rund um Ducie reichlich vor, vor allem Raubfische. Hätten wir alle Fische des Riffs gewogen, würden Spitzenprädatoren – zumal Haie – wohl zwei Drittel des Gewichts ausmachen, das in der Fachsprache Biomasse genannt wird. Stellen wir uns vor, wir gingen in die Serengeti in Afrika und sähen zwei Löwen für jedes Gnu. An Land wäre das unmöglich, doch so war es hier. Es ist eine umgekehrte Biomassenpyramide und somit der beste Indikator für ein ursprüngliches Ökosystem.

Nach Ducie segelten wir weiter zur Insel Henderson, wo wir erneut mit großen Dünungen aus dem Süden und Winden aus dem Norden zu kämpfen hatten. Der Kapitän der Claymore II versuchte volle fünf Tage, an einer geschützten Stelle zu ankern – eine echte Herausforderung. Ich fühlte mich wie eine Wetterfahne, die durch einen dünnen Draht mit dem einzigen Ankerplatz der Insel verbunden war. Unsere Tage waren mit Exkursionen auf den Dünungen, Tauchgängen und der Rückkehr aufs Schiffausgefüllt. Am Abend waren wir alle erschöpft, aber überglücklich. Hendersons Unterwasserwelt war offensichtlich ein weiterer von Menschen praktisch unberührter Lebensraum.

Henderson ist eines der seltenen angehobenen Atolle. Vor 800 000 Jahren war Henderson ein Atoll mit einem Korallenringriff, das eine seichte Lagune umschloss wie bei Ducie. Doch dann baute sich ein anderer Vulkan vom Meeresgrund auf und bildete eine hohe Insel, die wir heute als Pitcairn kennen. Dieser Vulkan verformte die Erdkruste und hob das Henderson-Atoll 33 Meter über den Meeresspiegel an. Heute sieht Henderson aus der Ferne wie ein Tisch aus, mit steil abfallenden Klippen rundum und einem flachen Landesinnern – die ehemalige Lagune –, das von undurchdringlicher Vegetation bedeckt ist. Henderson ist das letzte Atoll mit einem urtümlichen Urwald und vier Vogelarten, die nirgendwo sonst in der Welt vorkommen.

Die Haie vor Henderson waren noch neugieriger als jene bei Ducie. Sie schienen es enorm spaßig zu finden, unsere Kameras zu boxen, und verzierten meine mit deutlichen Kratzspuren ihrer sandpapierartigen Haut. Wir blieben trotzdem ruhig und waren überwältigt vor Ehrfurcht angesichts dieses intakten Ökosystems. Mein Herz schlug langsam und gleichmäßig, und ich bekam Gänsehaut unter meinem Taucheranzug. Ein Glücksgefühl erfüllte mich, das mit Liebe verglichen werden kann.

Nach fünf herrlichen Tagen bei Henderson kehrten wir nach Pitcairn zurück. Das Wasser war ein wenig klarer geworden, obwohl es noch immer regnete und in Ufernähe die Sicht nicht optimal war. Wir tauchten, begutachteten die Riffs und filmten. Wir sahen gesunde Riffs und eine Vielzahl von Fischen, aber nur wenige Haie. Wir waren mit den Einheimischen unterwegs, die uns in die Geheimnisse ihrer Insel einweihten und von ihren Sorgen erzählten. Die überalterte Bevölkerung Pitcairns benötigt einen Input von frischem Blut. Die Pitcairner sind von der Hilfe der britischen Regierung abhängig, um zu überleben. Sie haben Obstbäume, etwas Ackerbau und verkaufen dem kuriosen Kreuzfahrtschiff, das gelegentlich für wenige Stunden in der Nähe der Insel ankert, ihre kleine Produktion von Honig, Holzschnitzereien und Briefmarken. Das genügt jedoch nicht, um ihre Wirtschaft in Schwung zu halten. Wir dachten über ihre Zukunft nach. Eventuell hängt sie von etwas ab, das sie selbst selten zu Gesicht bekommen.

Blick auf den Public Square.

Blick auf den Public Square.

Start zum Fischfang mit dem Langboot.

Start zum Fischfang mit dem Langboot.

OENO IST BEREITS BEDROHT. MÜSSEN DIE JUNGFRÄULICHEN INSELN HENDERSON UND DUCIE ALS NÄCHSTE DRAN GLAUBEN?

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf fuhren wir unserer letzten Destination entgegen, dem Oeno-Atoll. Das Wetter wurde schlechter, und es gab keinen sicheren Ankerplatz, da Oeno bloß eine Meile Durchmesser hat, ein winziges Refugium in einem riesigen Ozean. Die Kombination von Dünung und Wind verwandelt das Atoll in einen Mahlstrom und das Meer in einen Whirlpool, der Schiffe zerschmettern und in die Tiefe reißen kann. Physisch erschöpft nach drei Wochen Tauchen und Skippern, waren wir aufmerksamer als sonst und verhielten uns besonders vorsichtig.

Während einer Sturmpause fuhren wir mit dem Beiboot durch einen sehr schmalen und flachen Strömungskanal in die Lagune. Eine Stunde, nachdem wir auf Oenos einziger Insel gelandet waren, goss es erneut in Strömen. Unsere Tauchanzüge wurden im Wind eiskalt, und wir erkundeten die Lagune deshalb schnorchelnd. Über sandigem Grund fanden wir Riffe, die mit einer Schicht überkrustender, rosafarbener Algen und so vielen Riesenmuscheln bedeckt waren, dass wir an einigen Stellen zehn Stück pro Quadratmeter zählten. Auf dem Rückweg brachen plötzlich Wellen über den Engpass des Kanals herein. Das Boot touchierte den Fels. Der Aufprall klang wie ein Schuss. Mein Herz raste, und mir wurde plötzlich sehr heiß. Wellen schwappten ins Boot. Der Kapitän drehte ab und versuchte es nochmals, doch erneut schrammte der Metallrumpf auf Kalkstein. Ich hasse diese Momente, in denen man nicht weiß, ob man heil davonkommen oder festsitzen wird.

Doch beim dritten Anlauf gelang das Manöver, und der Kapitän steuerte das Boot souverän in den offenen Ozean hinaus, obwohl wir das Riff nochmals touchierten. Zurück auf der Claymore II hoben wir das Beiboot aus dem Wasser und entdeckten, dass der Propeller stark beschädigt worden war. Doch für unsere Sicherheit war das ein kleiner Preis!

Die Dünungen in Oeno waren nicht allein deshalb beunruhigend, weil ich mich wie in einer Waschmaschine fühlte. Wir waren bestürzt, weil es keine Haie gab. Wie zum Teufel war es möglich, dass wir in einem isolierten, unbewohnten Atoll keinen einzigen Hai fanden? Nachdem wir schon zahlreiche Korallenriffe in verschiedenen Gegenden der Welt, abgestorbene wie intakte, erforscht hatten, kamen wir zum Schluss, dass ihre Abwesenheit hier nur durch Überfischen erklärt werden kann. Wo nicht oder wenig gefischt wird, kommen in Riffs reichlich Haie vor. Nun ist Oeno jedoch die am nächsten zu Französisch-Polynesien gelegene Insel des Archipels, und die Pitcairner berichteten von polynesischen und anderen Fischer ei flotten, die die Haie von Oeno im Visier hätten. Wenn Oeno bereits bedroht ist, fragt man sich, was als Nächstes geschehen wird. Werden die jungfräulichen Inseln Henderson und Ducie an der Reihe sein?

Es gibt nur eine Lösung: Diese letzten südpazifischen Paradiese müssen vor dem menschlichen Zugriff geschützt werden. Gegenwärtig werden 95 Prozent der Ozeane von Fischereiflotten genutzt, und weniger als fünf Prozent können als unberührt bezeichnet werden. Wir dürfen diese letzten fünf Prozent nicht zerstören, bloß weil wir die übrigen 95 Prozent bereits ausgebeutet haben. Die ursprünglich gebliebenen Gebiete sind die letzten Beispiele noch intakter pelagischer Ökosysteme. Sie sind das einzige Handbuch des Meeres, aus dem wir lernen können, was wir verloren haben, jedoch auch erkennen, wie die Zukunft aussehen könnte.

Epilog: Als dieser Artikel geschrieben wurde, besprachen die Pew Environment Group und die National Geographic Society mit dem Pitcairn Island Council und der britischen Regierung die Möglichkeit, ein großes Reservat zum Schutz der 200-Meilen-Zone als exklusivem Wirtschaftsraum der Pitcairn Islands zu schaffen. Diese Expedition war die erste der Pristine-Seas-Partnerschaft von Blancpain und der National Geographic Society.

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Das Atoll von Oeno.

Das Atoll von Oeno.


Herausgeber
Blancpain SA
Le Rocher 12
1348 Le Brassus, Schweiz
Tel.: +41 21 796 36 36
www.blancpain.com
pr@blancpain.com


Projektmanagement
Christel Räber Beccia


Chefredaktion
Christel Räber Beccia
Jeffrey S. Kingston


Autoren dieser Ausgabe 
Michel Jeannot
Jeffrey S. Kingston
Enric Sala


Übersetzung und Bearbeitung der deutschen Ausgabe
Robert und Claudia Schnieper

 

Konzept, Grafik-Design, Verwirklichung
TATIN Design Studio Basel GmbH
www.tatin.info


Art Direction
Marie-Anne Räber
Oliver Mayer


Fotolithografie
Sturm AG, Muttenz, Schweiz


Fotografen
Blancpain
Matthieu Cellard / Maison Lameloise
Pierre-Michel Delessert
Josmeyer
Alban Kakulya
Jeffrey S. Kingston
Claude Mahon
Arno Murith
Enric Sala / National Geographic
Joël Von Allmen

Erscheinungsdatum: November 2012

 

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