Kapitel 5
Es ist eine echte Freude, die Genüsse der großen französischen Küche wiederzuentdecken.
Es ist unbestreitbar, dass kulinarische Entdeckungen mit einem gewissen Thrill verbunden sind. Fein schmecker und Gastrokritiker der ganzen Welt machen einen Salto für noch nie dagewesene Kreationen, exotische Ingredienzen, molekulare Verwandlungen oder was immer kurzlebige Trends auf die Th eaterbühnen hieven, die einst Restaurants genannt wurden. Doch was, wenn die „Entdeckung“ weder topaktuell noch das Produkt von Kräutersammlern in norwegischen Wäldern ist und sich auch nicht dem Einsatz eines Teilchen beschleunigers verdankt? Was eigentlich, wenn es schon lange da war und in der wilden Jagd nach verrückten Neuheiten lediglich vergessenging? Kurzum, kann der Th rill nicht gleich oder gar noch größer sein, wenn es sich bei der Entdeckung um große Klassiker handelt, die liebevoll zubereitet und zur Perfektion ausgefeilt wurden? Für mich gibt es da nur ein entschiedenes „Ja“, vor kurzem überzeugend untermauert durch einen erneuten Besuch in Michel Rostangs gleichnamigem Pariser Restaurant in der Rue Rennequin. Das Essen war eine Bestätigung der himmlischen Freuden, welche die traditionellen Pfeiler der französischen Küche und die tröstlichen Rituale der Präsentation bei Tisch bieten können.
Tatsächlich sind wir nicht allein auf dieser Reise zur Wiederentdeckung der klassischen französischen Küche. Um die Entwicklung der Gastronomie als fortwährend aufsteigenden Bogen der Kühnheit zu visualisieren, ist das Möbiusband als Symbol für die endlose Wiederholung ein gutes Beispiel. Selbst der New Yorker, dieses immer trendige und an vorderster Front agierende Fashion-Magazin, widmete kürzlich der Renaissance dreier Eckpfeiler der klassischen Küche Frankreichs einen großen Artikel und hielt sich dabei an Rezepte des großen Escoffier – eine Chartreuse, eine Lachspastete (Koulibiac de saumon) und eine Blutente (Canard au sang). Die Ergebnisse waren nicht nur an sich Offenbarungen, auch die recht schwierige Zubereitung stellte sich als Abenteuer heraus. Als Überraschung! Weit davon entfernt, veraltet zu sein, können Escoffiers Lehren frisch, kühn, innovativ und möglicherweise sogar hip interpretiert werden, und dies in einer Welt, die von der Molekularküche überrollt wird.
Für Michel Rostang gibt es keine Wiederentdeckung zahlreicher ehrwürdiger Standards; er hat sie nie vergessen. Er wacht seit 1978 über die Kochtöpfe seines Pariser Restaurants, kann sich seit dreiunddreißig Jahren ohne Unterbruch zwei Michelin-Sterne an die Brust heften und hält dabei den großen Klassikern unerschütterlich die Treue.
Kochkunst hat Tradition in seiner Familie: Michel Rostang repräsentiert die fünft e Generation großer Chefs (und die dritte, die mit Michelin-Sternen ausgezeichnet wurde). Seine Frau, Marie-Claude, die der Servicefront vorsteht, stammt ebenfalls aus einer Familie von Küchenchefs. Bei der Begrüßung der Gäste wird sie von ihren Töchtern Sophie und Caroline unterstützt, der sechsten Generation dieser Restaurateurfamilie.
Wie bei vielen Sterneköchen begann Rostangs Ausbildung früh, mit 16 Jahren, ungefähr zur selben Zeit, als die Nouvelle Cuisine erste Schlagzeilen machte. Michels Schulung ging jedoch in eine andere Richtung. Seine wichtigsten Stages absolvierte er in den Restaurants Lasserre und Lucas Carton in Paris sowie La Marée in Biarritz, alles Tempel der Tradition. Beeinflusst von der Sensibilität und den Anregungen seines Vaters Jo, entwickelte Michel Rostang eine große Hochachtung vor der klassischen französischen Küche und deren Grundsätzen: einheitliche Konzeption des Gerichts, auf Reduktionen basierende Saucen und, im Gegensatz zu den heutigen Modernisten, keine Angst vor Butter und Sahne. Hand in Hand mit diesen Axiomen geht das lange zelebrierte, jedoch tragischerweise beinahe vergessene Ritual der Präsentation, des Zerlegens und Servierens bei Tisch. Rostangs Leidenschaft für Tradition geht so weit, dass er fleißig Kochbücher aus dem 18. Jahrhundert sammelt; er sucht sie oft auf dem Pariser Flohmarkt, dem berühmten Marché aux Puces. Das heißt allerdings nicht, dass Michel Rostang nur rückwärts schaut und in der Vergangenheit gefangen wäre, hat er doch die Rezepte im Lauf der Zeit weiterentwickelt und immer wieder angepasst.
Es gibt heute nicht mehr viele Restaurants, in denen eine unverfälschte große Küche gepflegt wird, mit Gerichten, die sich auf die Kernelemente der klassischen französischen Kochkunst stützen und am Tisch mit Charme und Savoir-faire präsentiert werden. Während die Modernisten strampeln, um sich durch immer trendigere Kreationen vom Rudel abzuheben, erreichte Rostang dank seiner Beständigkeit, was die anderen so verzweifelt anstreben: Einzigartigkeit. Mit seinem Stil steht er beinahe allein als die einzige
Destination in Paris, wenn nicht in der Welt, wo man sich so richtig mit traditionellen Genüssen verwöhnen lassen kann.
Rostangs Vorliebe für die Rituale der französischen Küche führten 2012 zur Gründung eines neuen Forums. Der Anlass war das 100-Jahr-Jubiläum der von Escoffier 1912 in Paris ins Leben gerufenen „Dîners d’Epicure“. Das Leitmotiv dieses Jubiläums-Festessens lautete: „De la cuisine à la salle, le geste et la parole“. Es wurde erstmals von vier Küchenchefs zubereitet, die im Team arbeiteten: Michel Rostang, Michel Troisgros, Pierre Hermé und Jean-Pierre Biffi . Der diesmal in Rostangs Restaurant stattfindende Abend löste bei begeisterten Gourmets, die sich einen Platz im Speisesaal sichern wollten, ein hektisches Wettrennen aus. Jeder der Chefs war für einen Gang des Essens verantwortlich. Rostang steuerte den Canard au sang bei. Dieses Gericht passte perfekt zum Motto des Essens: Die Zubereitung der Ente verlangt Präzision in der Küche, zudem soll sie anschließend im Speisesaal geschickt tranchiert werden, und das Fertigstellen der Sauce vor den Augen der Gäste vollendet das kulinarische Schauspiel.
Beim letzten Besuch an der Rue Rennequin bestätigte sich erneut, dass diese scheinbar vergessene Welt eine Reise lohnt. In deutlichem Gegensatz zu zahlreichen Lokalen, die nicht nur den Speisen auf dem Teller, sondern auch der Umgebung Hipness injizieren, vertraut Michel Rostang auf länger erprobte Werte. Betritt man sein Restaurant, wirken die in warmen Farben gehaltenen Holzwände sogleich beruhigend. Den gleichen Effekt haben Wandteppiche, gut ausgewählte Bilder und eine mächtige, mit Porzellanpuppen gefüllte Vitrine. Luxus herrscht auch bei den Tischen, sind sie doch in großzügigem Abstand voneinander plaziert.
Zur traditionellen Coupe de champagne wird eine kleine Armada von Häppchen serviert: Miniatursandwiches mit würziger Sardinenmousse, Madeleines mit Schinken, ein Toast mit einer Hummerscheibe, getoppt mit wenig Pimento, und schließlich eine intensive und klassische Taubenmousse auf einem knusprigen Sablé. Das sind nicht bloß perfekte Partner zum Champagner, sie erleichtern auch die Bürde der Lektüre einer Weinkarte, die zweifellos zu den besten in Paris gehört. Die reichhaltige, differenzierte Auswahl beeindruckt besonders mit einem umfassenden, klugen Angebot an Burgundern. Dahinter steckt der Sommelier Alain Ronzatti, der den Keller seit 1987 betreut und über ein enzyklopädisches Wissen verfügt, das er den Gästen mit Verve weitergibt.
Die Ravioles de Romans cuites au bouillon de volaille, cerfeuil frais sind nach wie vor im Repertoire und wecken lebhafte Erinnerungen an unseren ersten Besuch bei Michel Rostang in den frühen 1980er Jahren. Ätherisch leichte Miniaturravioli sind mit einer Käsemousse gefüllt sowie mit Kerbelkraut akzentuiert und schweben in einem intensiven, mit Kerbel gewürzten Geflügelfond. Eine sanfte, leichte Ouvertüre für die folgenden Gänge.
Meeresfrüchte sind eine Spezialität des Hauses. Einsame Spitze und mit Sicherheit in Paris, wenn nicht in der ganzen Welt, unerreicht ist La salade de homard „bleu“ cuit au moment et servi entier, jeunes poireaux en vinaigrette, crémeux de homard et jus de la presse à la betterave. Passionierte Feinschmecker fragen nun zweifellos nach dem Wahrheitsgehalt dieser gewiss ein wenig gewagten Behauptung, doch mit der folgenden Beschreibung werden sich diese Bedenken ganz einfach in Luft auflösen. Ein Wagen mit Schneidbrett rollt einen ganzen britischen Atlantik-Hummer in seinem Panzer an den Tisch und wird zur Bühne des
erwarteten Stücks. Rostang ist ein heftiger Verfechter der theatralischen Präsentation bei Tisch, und dieses Hummergericht liefert den klaren Beweis für deren Vorzüge und das enorme Können und die Eleganz, die es dazu braucht. Ohne eine einzige falsche Bewegung schneidet Bruno Grimault, der Maître d’hôtel, geschickt und perfekt das lauwarme Hummerfleisch aus der Schale. Wo sonst wird ein ganzer Hummer am Tisch präsentiert und aufgeschnitten? Doch mit dem Zerlegen ist das Schauspiel noch nicht zu Ende. Ist das auf den Punkt glasig gegarte Fleisch aus der Schale befreit, wird es zum Salat komponiert und in die zwölf Schalen einer mächtigen Platte verteilt, die jede Lauch, ein reichhaltiges Püree von Roter Bete und Hummersauce enthalten. Überraschend bei diesem Salat ist die Verbindung von Hummerstücken mit Püree von Roter Bete. Ohne unangenehm zuckrig zu wirken, verleiht das rote Gemüse der natürlichen Süße des Hummers einen delikat erdigen Akzent. Dank der präzisen Garzeit, der Präsentation bei Tisch und der raffinierten Salatverpaarungen ist es ein majestätisches Gericht, das allein schon eine Pilgerfahrt nach Paris wert ist.
Rostangs Araignée de mer relevée de gingembre, crémeux de courgettes en impression de caviar Osciètre ist eine weitere Demonstration seines Talents im Umgang mit Meeresfrüchten. In weniger fähigen Händen sind Seespinnengerichte häufig enttäuschend. Die Schwierigkeit ist, dass das Fleisch der Seespinne äußerst zart ist und leicht von Zutaten übertönt wird; es verlangt Zurückhaltung und Finesse, und dies sind genau die Eigenschaften, die Michel Rostang auszeichnen.
Die Zucchini in Form einer feinen Mousse hüllen die Krabbe wie ein Cannellone ein. Ein Cannellone allerdings, der mit feinen Kaviarkreisen dekoriert ist.
Eine andere Spezialität könnte ebenfalls einen Run auf den nächsten Flug nach Paris auslösen: Le sandwich tiède à la truffe fraîche, pain de campagne grillé et beurre salé. Stellen Sie sich ein schlichtes getoastetes Käsesandwich vor, allerdings mit einem Unterschied. Der Käse fällt weg und wird durch Trüffel ersetzt. Das ist die ultimative Luxus-Hausmannskost, einfach, intensiv und sündhaft dekadent. Der Chef wendet einen Trick an, ohne den dieser Gang ein recht triviales Gericht wäre. Er parfümiert die Butter und das Brot während dreier Tage vor dem Grillen und Servieren des Sandwichs mit Trüffeln, so dass Brot und Butter nicht bloß die Unterlage für die Trüffelscheiben sind, sondern selbst zum berauschenden Duft und Geschmack beitragen.
Eine fast vergessene feste Größe der französischen Küche, La quenelle de brochet soufflée à la crème de homard, spielt an der Rue Rennequin immer noch eine wichtige Rolle. Die erste Gabel voll löst mit großer Sicherheit abgrundtiefes Bedauern aus über die Jahrzehnte der Verbannung dieser klassischen Hechtklößchen in den Spitzenrestaurants. Freilich sind sie kalorienreich, ja sogar ausgesprochen üppig. Doch gehen wir nicht in große Restaurants, um aus dem Alltagstrott auszubrechen und uns mit dekadenten Freuden zu verwöhnen? Irgendwie kamen die Küchenchefs und Patrons auf die Idee, dass jede Mahlzeit, sogar ein festliches Abendessen, das sogenannte Spa Food nachäffen soll. Bei Rostang wurden uns diese Klößchen in Form einer einzigen großen Quenelle souffl ée serviert, begleitet von einer intensiven, reichhaltigen und hocharomatischen Hummersauce (die mitgekochte Schale des Tiers trägt zur Geschmacksfülle bei). Die Philosophie der politisch korrekten, „mageren“ Küche hatte da nichts verloren. Ein Destrukturieren ist unnötig, weil jeder Bissen Wellen des Genusses auslöst.
Leichter und nach heutigem Verständnis konventioneller ist Le tronçon de turbot rôti, jeunes carottes et morilles fraîches, coques d’oignons glacés et jus des arêtes au vin de syrah. Der topfrische gebratene Steinbutt liegt neben einem „Erbsenboot“, das mit jungen Karotten, glasierten Zwiebeln und Morcheln beladen ist.
Voll zum Tragen kommt Bruno Grimaults Virtuosität und Know-how bei Tisch mit La canette „Miéral“ au sang, servie saignante en deux services, sauce au vin rouge liée de son sang et au foie gras; salade de cuisses en fricassée, also mit dem Gericht, das Michel Rostang Weltruhm eingetragen hat. Es gibt nicht mehr viele Restaurants, die das Savoir-faire des Bratens und Tranchierens bei Tisch einer ganzen Ente beibehalten haben. Um so größer ist die Bewunderung für die Präzision, mit der das Geflügel auf den Punkt gegart ist, ebenso wie für Bruno Grimaults einwandfreies Zerlegen des mahagonifarben glänzenden Vogels. Doch das ist nur der erste Akt des Schauspiels, der zweite besteht im Fertigstellen der Sauce. Dazu wird ein Apparat benötigt, den man heute kaum mehr findet: eine silberne Entenpresse. Zuerst wird die Entenkarkasse darin ausgepresst, um das Blut und den Fleischsaft zu gewinnen. Dieser kostbare Saft wird daraufhin behende mit der Grundsauce vermischt und bei großer Hitze reduziert. Das Ergebnis ist eine dickflüssige, dunkle, würzige und tiefgründige Sauce.
Die Präsentation wurde in den letzten Jahren lediglich in einem Punkt verändert. Früher wurden die Entenbrüste der Länge nach in beinahe papierdünne Streifen geschnitten und auf der Platte wie ein Carpaccio angerichtet. Damit das Fleisch etwas mehr Biss hat, werden die Streifen nun quer und ein wenig dicker geschnitten. Ich habe über die Jahre hinweg beide Versionen gemocht, und weder die eine noch die andere ist falsch. Die Ente ist mit beiden Methoden ätherisch,
zart und dennoch von jener Festigkeit, die Rostang mit der neuen Tranchierart anstrebt, ganz abgesehen von der sündhaft kräftigen Sauce, in der sie badet … Hätte Escoffier die Zubereitung des Canard au sang nicht in allen Einzelheiten beschrieben, die Entenpresse eingeschlossen, wäre dieses gloriose Rezept samt der Sauce wahrscheinlich verlorengegangen. Darum war es naheliegend, dass die Blutente bei der 100-Jahr-Feier der Escoffier-Diners in Verbindung mit Rostangs Können als einer der grundlegenden Pfeiler der französischen Küche auf dem Menü stand. Und zur Verdeutlichung der Botschaft , dass man nicht in einem Spa speist, sondern an einer echten fête schwelgt, wurde zur Ente ein opulenter Kartoffelgratin gereicht.
Beeindruckend ist auch La noix de ris de veau croustillante aux écrevisses, fanes de navets farcies d’une crème de persil et champignons de Paris. Auch bei seinen Kalbsmilken hält sich Michel Rostang an die Klassik. Milken sind stets ein Test für die technischen Fähigkeiten der Küche. Sind sie korrekt zubereitet, was leider nicht oft der Fall ist, fasziniert der Gegensatz der Texturen: Die Kruste ist kross und das Innere zartcremig. Bei Rostang ist das Ergebnis perfekt. Die Kombination mit einer Sauce von Flusskrebsen ist beides, traditionell und schmackhaft.
Le soufflé chaud au caramel beurre salé, sorbet aux poires Williams ist ein Dauerfavorit bei Rostang. Obwohl die Beschreibung altbekannt scheint, würzt er dieses Dessert mit ein paar Überraschungen. Die salzige Caramelbasis fürs Soufflé erhält durch die Beigabe von Haselnüssen sowohl Textur als auch Tiefe. Noch gewagter ist das dazu servierte Birnensorbet, dem Szetschuanpfeffer einen exotisch-rassigen Kick verleiht. Und falls Sie für salzige Caramelsauce schwärmen, bitten Sie einfach um ein Supplément.
Die Rue Rennequin ist seit drei Jahrzehnten eine meiner persönlichen Destinationen in Paris. Es ist tröstlich, dass Michel Rostang dieselben Werte ehrt und respektiert, dank denen er zu Beginn seiner Karriere berühmt wurde. Für Liebhaber der Genüsse der großen Küche Frankreichs oder für Gourmets, die sie im Rausch der modernen Kulinariktrends verpasst haben, ist die Rue Rennequin in Paris eine höchst verlockende Oase.