Kapitel 3
Im Herzen der Philippinen werden eine Insel und ihr Totemtier zu Symbolen des Überlebens und der Renaturierungsökologie …
Schwierig zu sagen, ob er schwimmen kann … Er paddelt, pedalt, trottet auf dem Meeresgrund herum. Eines steht fest, er kommt voran. Seine mühsame Fortbewegungsart ist effizient, aber rudimentär und deutet darauf hin, dass diese Kreatur direkt aus den Tiefen der Zeit kommt. Nichts scheint ihn gezwungen zu haben, sich zu ändern, zu entwickeln und anzupassen. Mit dieser robusten und simplen Strategie ging er seinen Weg durch die Jahrmillionen, durchquerte unterseeische Berge und versunkene Täler, weitgehend unberührt von den großen Umweltveränderungen der Vergangenheit, die zum Aussterben zahlreicher Arten führten, darunter wesentlich beweglichere und größere wie etwa der Dinosaurier. Doch er hat sie alle überlebt. Der Pfeilschwanzkrebs verdient Respekt.
Seine Morphologie hat sich in den 150 Millionen Jahren, in denen er schon über den Meeresgrund wandert, kaum verändert. Ich schwimme erst seit drei Stunden an seiner Seite. Das ist nicht besonders anstrengend, da diese lebende Maschine eher einem Panzerwagen als einem Überschallflugzeug gleicht. Der Pfeilschwanzkrebs gehört zwar zum Stamm der Gliederfüßer, ist jedoch ungeachtet seines Namens kein Krustentier und erinnert denn auch weniger an einen Hummer als an eine gigantische Assel. Seine Karosserie ist höchst einfach, eine einzige große kreisförmige Schale, die den Thorax und den Kopf überdacht. Kein Firlefanz, nur einige spitze Sporen auf der Oberfläche, nichts Aggressives, sie dienen vielmehr der Abschreckung. Was die Instrumentation betrifft, ist die Maschine auf beiden Außenseiten des Panzers mit einer Art Periskopen ausgestattet. Einige Biologen stufen sie als Facettenaugen ein. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Krebse damit ein präzises Bild von ihrer Umgebung machen können, sie funktionieren wohl eher wie lichtempfindliche Radargeräte, die Umrisse von Hindernissen wahrnehmen sowie Tag und Nacht unterscheiden können.
Bereits sind drei Stunden vergangen, und der Tag neigt sich dem Ende zu. Einige gelbe Lichtstrahlen dringen noch ins Wasser. In wenigen Augenblicken wird es Nacht. Unter der Meeresoberfläche klingt der Tag nicht langsam aus, er verschwindet viel schneller als an Land. Ursache ist das physikalische Phänomen der Lichtbrechung: Ein Lichtstrahl, der ins Wasser dringt, ändert seine Richtung um 20 Grad. Wenn die Sonne also weniger als 20 Grad über dem Horizont steht, können die abgelenkten Strahlen nicht mehr eindringen, sie prallen ab. Deshalb wird es unter Wasser schlagartig Nacht. Die Strahlen kippen nach vorn, als wollte die Sonne eine Verbeugung machen und dem Ozean auf Wiedersehen sagen, bevor sie sich bis zum nächsten Tag verabschiedet.
Dieser erste Tauchgang endet nachts. Kurz nachdem wir unsere Ausrüstung deponiert haben, erreichen wir den Gipfel des mit nur vier Hektar winzigen Eilands Pangatalan nordöstlich der westphilippinischen Insel Palawan. Wir haben uns im unerwarteten Komfort eines prachtvollen Anwesens einquartiert. Diese Insel in Privatbesitz wird vom französischen Ehepaar Fred und Chris Tardieu verwaltet. Sie waren von diesem Stück Land begeistert und wollten sich hier niederlassen. Vom Traum zur Wirklichkeit vergingen rund dreißig Jahre, es brauchte eine gute Dosis Hartnäckigkeit, wenn nicht gar Sturheit, und ein gewisses Know-how in Sachen Architektur, Terrassieren, Bauen und Umgang mit der Umwelt. Denn es ging nicht nur darum, auf dem höchsten Punkt der Insel ein schönes, großes Haus zu bauen, sondern auch um die Rehabilitierung des gesamten Ökosystems der Insel.
Zehn Jahre lang pflanzten sie mit Hilfe aller Einwohner der Region geduldig sechzigtausend Bäume und andere Pflanzen, um die Bodenerosion zu stoppen und sich mit Früchten zu versorgen, sowie annähernd zehntausend Mangroven zum Schutz der Ufersümpfe der Insel. Ein wenig später begannen sie die Korallenriffe rund um die Insel wiederzubeleben. Als sie an die Grenzen ihrer Fähigkeiten stießen, zogen sie den jungen, motivierten Meeresbiologen Thomas Pavy bei. Er lebte zwei Jahre lang mit ihnen auf der winzigen Insel, um eine ökologische Diagnose des Unterwasserbereichs zu erstellen. Durch Zählen und Inventarisieren der Fauna und Flora sowie Kartografieren der Lebensräume leitete er die Klassierung der Insel als Naturschutzgebiet in die Wege. Parallel zu dieser quasi politischen Aktion geht die konkrete Arbeit weiter. In den praktisch toten Zonen installieren Thomas und Fred kontinuierlich an die dreihundert einfache, solide Betonelemente, auf denen sie auf dem Meeresgrund eingesammelte abgebrochene, aber noch lebensfähige Korallenzweige befestigen, so dass sie wieder wachsen und sich ausbreiten können. So werden die künstlichen Riffe mit der Zeit unter dem natürlichen Aufwuchs der Korallenriffe verschwinden. Dank der Hartnäckigkeit der beiden Biologen wurde die Insel 2016 von den lokalen philippinischen Behörden offiziell zur geschützten Meereszone erklärt.
Pangatalan hat einen langen Leidensweg hinter sich. Jahrzehntelang hatte man die Insel bis in die Mangrovenwälder abgeholzt und das Riff mit Dynamit und Zyanid überfischt. Trotzdem ist die Situation unter Wasser nicht katastrophal. Man sieht, dass die Voraussetzungen für eine erfreulichere Entwicklung vorhanden sind. Die Insel wird künftig aktiv geschützt. Natürlich ist es ein schmerzliches Dilemma, wenn man einige arme Fischer wegweisen muss, für die Naturschutz ein Fremdwort ist, solange ihr eigenes Überleben auf dem Spiel steht. Schrittweise kehrt Leben ins Riff zurück. Es ist ein wachsendes Ökosystem, das man uns zu untersuchen und zu fotografieren bittet. Obwohl große Fische noch fehlen, hat sich die Biodiversität gut entfaltet und könnte selbst Haien und Meeressäugern Nahrung bieten, beispielsweise dem Dugong. Diese Seekuhart ernährt sich von Seegras und kam hier früher häufig vor.
Da es noch eine Weile dauern wird, bis sich die Artenvielfalt um Pangatalan vollständig regeneriert, erkunden meine Kameraden und ich auf unseren Tauchgängen den aktuellen Zustand dieses einzigartigen Universums. Florian macht Tausende von Aufnahmen bei den künstlichen Riffen, aus denen ein dreidimensionales fotogrammetrisches Modell entsteht. In einigen Monaten oder Jahren wird es genügen, das Ganze in einem erneuten Foto-Rundgang nochmals aufzunehmen. Durch einen Abgleich werden uns Algorithmen mit extremer Präzision informieren, wie sich die künstlichen Korallenriffe seit ihrer Anpflanzung entwickelt haben. Damit gewinnt die Fotografie hier für mich eine neue Dimension. Meist geht es darum, die Realität zu sublimieren: das Wunderschöne noch schöner zu machen, die Katastrophe noch dramatischer. Hier ist es anders. Ich muss versuchen, die Hoffnung, die Anzeichen und die Symbole einer möglichen Erneuerung in Nuancen zu illustrieren. Die Insel erhebt sich am Ende einer riesigen Bucht. Deren Wasser ist nicht transparent, sondern eher grün, da es reich an pflanzlichem Plankton und anderer organischer Materie ist. Damit bietet es alles, was es braucht, um die Blessuren des Ökosystems zu heilen und die Genesung des Riffs zu unterstützen.
Jeden Morgen stoßen wir schon vom ersten Tauchgang an auf Pfeilschwanzkrebse. Allerdings muss man sagen, dass es sich mein Mitarbeiter Cédric geradezu zur Ehrensache gemacht hat, sie aufzuspüren. Selbst wenn er sein letztes Paar Flossen opfern müsste, durchsucht er den schlammigen Meeresboden unermüdlich, bis er sie gefunden hat. Dabei hat er einen Trick, um nicht auf gut Glück suchen zu müssen: Wie ein Trapper liest er die Spuren, die der Pfeilschwanz auf seinen Wanderungen hinterlässt. Wenn er sich fortbewegt, zeichnet sein steifer Schwanz eine Schleifspur in den Schlick. Das Problem ist, dass der Schlick sehr leicht und die Spur von den Strömungen entsprechend rasch ausgelöscht ist. Deshalb gilt es den Grund so schnell wie möglich zu erkunden. Einmal fand Cédric sogar eine Doppelspur. Zwei Spuren, zwei Pfeilschwanzkrebse? Neugierig verfolgte er die Fährte und stieß auf ein Duo, das aneinanderzukleben schien: eine Paarung! Dabei zeigte sich, dass der Panzer des Männchens vorne eine Einbuchtung hat, damit es sich ganz an den runden Körper seiner Partnerin anschmiegen und vom Weibchen huckepack genommen werden kann. Dabei geht das Männchen nicht gerade stürmisch, sondern eher langsam zu Werke: Die Paarung wird 15 Tage dauern. In dieser Zeit erträgt sie diese Belastung offenbar geduldig, bis er endlich seine eheliche Pflicht erfüllt hat.
Nach der Paarung ziehen die Weibchen an den Strand und legen Tausende von Eiern in dem Bereich, in dem der Sand noch von der Brandung benetzt wird. Nachdem sie das Fortpflanzungsgeschäft erledigt haben, wandern sie wieder in die schlickigen Tiefen zurück. Die größten und aktivsten werden von kleinen Goldmakrelen begleitet, jugendlichen Opportunisten, die ständig auf Beutetiere aus sind, die vom Pfeilschwanzkrebs auf dem Meeresgrund aufgescheucht werden. Die Fische wuseln über diesem lautlos pflügenden Traktor der Meere hin und her, als wären sie seine Signalleuchten. Und sie sind nicht die einzigen, die von diesem lebenden Fahrzeug profitieren. Bei näherem Hinsehen entdeckt man unter seiner Haube eine kleine Welt für sich, eine Population von Krabben. Sie bewegen sich zwischen den Gelenkscheren des Pfeilschwanzkrebses, als wären diese das Getriebe einer organischen Maschine.
So verläuft das Leben dieser so robust, spartanisch und asketisch wirkenden Kreatur, der keinerlei Gemütsbewegungen anzusehen sind. Und naiverweise könnte man glauben, sie werde alles überdauern. Falls es stimmt, dass die Garantie des Glücks darin besteht, zu wollen, was man bereits hat, kann die Fortdauer und Nachhaltigkeit nur durch Fähigkeiten gesichert werden, die den eigenen Bedarf übersteigen. Für den Pfeilschwanzkrebs wäre somit alles für immer in bester Ordnung gewesen. Doch seit der Mensch erkannt hat, dass er eine eigentliche pharmazeutische Schatzkammer ist, ist dieses scheinbar zeitlose Tier nicht mehr unverletzlich und das Gleichgewicht in Gefahr. Denn der Pfeilschwanzkrebs hat blaues Blut und damit ist nicht eine adelige Herkunft gemeint, sondern sein Hämoglobin. Genau genommen handelt es sich um Hämocyanin, denn das Zentralatom ist nicht das Eisen, welches das Blut rot färbt, sondern es ist vielmehr das Kupfer, welches das Blut blau macht. Blau wie Saphir und noch teurer als dieser Edelstein: 14 000 Dollar kostet der Liter, weil sein Plasma Limulus- Amöbozyten-Lysat enthält, ein Molekül, das unmöglich zu synthetisieren ist, aber erlaubt, toxische Bakterien in Humanimpfstoffen nachzuweisen. Jedes Jahr werden 500 000 Pfeilschwanzkrebse eingefangen, denen 30% ihres kostbaren blauen Blutes entnommen wird. Diejenigen, die überleben, werden wieder ausgesetzt, sie sind jedoch geschwächt, desorientiert und überstehen den Eingriff meistens nicht. In der Bucht von Delaware, im Süden von New Jersey, sind seit den 1980er Jahren bereits 75% der Pfeilschwanzkrebse verschwunden. Deshalb wird dieser Überlebenskünstler, dessen Familie seit 450 Millionen Jahren nachgewiesen ist, heute als vom Aussterben bedrohte Art eingestuft. Noch gilt das nicht für Pangatalan. Die nun geschützte Insel und ihr Meeresumfeld sind für den Pfeilschwanzkrebs ein Hafen des Friedens. Wer Naturräume schützt, schützt auch deren Bewohner. Die Insel, der Pfeilschwanzkrebs – eine Idylle.