Kapitel 11
Ein mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnetes Erlebnis, das auf dem Teller Legenden, Rituale und jahreszeitliche Feste miteinander verwebt.
Das Restaurant mit seinem Lattengitter-Eingang befindet sich in einem unscheinbaren Wohnhaus viertel, zwanzig Autominuten vom belebten Zen trum Osakas entfernt. Andere Gasthäuser sind nicht in Sicht, auch keine Geschäfte irgendwelcher Art. Auf der anderen Seite der schmalen Gasse schützt eine Wand die Wohnhäuser vor dem Lärm einer Autobahn. Doch der unauffällige Eingang ist das Tor zum besten Restaurant von Osaka und einem der berühmtesten in ganz Japan.
Der Höhepunkt der japanischen Küche ist ein „Kaiseki“-Menü, das eine mehrstündige Reise verspricht, die Legenden, Rituale und die Feiern im Jahreslauf mit den Geschichten verwebt, die der Küchenchef nicht nur mit den Gerichten, sondern auch mit der Gestaltung der Serviertabletts und des Geschirrs vermittelt. Bei einem Abendessen im Mai 2024 im Restaurant Kashiwaya (drei Michelin-Sterne) von Chefkoch Hideaki Matsuo wurden die Gäste zu einem Abenteuer mit japanischen Legenden über das Eisfest, den Beginn der Ayu-Saison im Juni, eine Familientradition aus der Erziehung seiner Kinder, Inspirationen durch eine Art-Déco-Ausstellung und sogar Pop-Art von Andy Warhol eingeladen. All diese Themen kamen in der Parade der Gerichte zum Ausdruck.
Matsuos Aufstieg zu kulinarischem Ruhm verlief nicht geradlinig von seiner Jugend bis an den Herd. Denn sein Interesse galt schon früh der Kernphysik, die er denn auch an der Universität studierte. Die Kehrtwende folgte ausgerechnet während einer von einem Hauch von Mystik begleiteten Teezeremonie. Nach der Teezeremonie wurde ihm bewusst, dass seine Aufgabe in der Physik darin besteht, Dinge zu beobachten und zu erklären, die in der Natur unabhängig von seinem eigenen Tun existieren. Andererseits ging die Teezeremonie über das Studium der Physik hinaus, da sie Erfindungen zuließ und ihn mit jeder Handlung, jeder Geste befähigen würde, seine eigene Realität zu kreieren. Außerdem sah er noch einen weiteren Unterschied. Nach Ansicht des Großmeisters der Teezeremonie, Sen no Rikyu, bedarf es bei einer gut gemachten Teezeremonie keiner Worte, um eine Botschaft zu formulieren und dem Gast deren Bedeutung zu vermitteln. Das Gleiche könne er mit dem Essen tun, denn gut zubereitete und schön präsentierte Speisen würden auch ohne Worte kommunizieren. Noch mystischer sei die Erkenntnis, dass man die Kraft vieler Handlungen erleben könne, ohne dies eigentlich zu realisieren. Als Beispiel nennt er die Essstäbchen. Er beobachtet, ob ein Gast Rechts- oder Linkshänder ist. Für Linkshänder arrangiert er die Präsentation der Speisen auf dem Teller auf andere Weise als für Rechtshänder, weil er weiß, dass Links- händer die Elemente auf dem Teller anders erfassen.
Diese Anpassung der Präsentation werde von den Gästen nicht wirklich bemerkt. Die Mahlzeit werde einfach als harmonisch erlebt, ohne dass man dieses durchdachte Detail bekanntgeben müsse.
Nach drei Jahren Ausbildung in Spitzenrestaurants in der Präfektur Shiga kam Matsuo zurück nach Osaka. Seinem Vater gehörte bereits das Gebäude, in dem sich das „Kashiwaya“ heute befindet. Obwohl er zunächst überlegt hatte, ein Restaurant im Stadtzentrum zu eröffnen, fand Matsuo, es spiele keine Rolle, dass der Standort dreißig Minuten außerhalb sei, sofern es ihm gelänge, das Gebäude umzugestalten und einzigartige Erlebnisse zu bieten. Im Einklang mit der großen japanischen Tradition verlieh er jedem Raum ein besonderes Ambiente. Im Obergeschoss ließ er sich vom Art-Déco-Design inspirieren. Die niedrigen Tische auf den Tatami-Matten sind aus edlen Hölzern gefertigt oder mit schwarz schimmerndem Lack behandelt. Die Fenster öffnen sich auf die Gärten mit viel Grün, Platten- und Kieswegen.
Matsuo engagiert sich wie Blancpain für Ökologie und die Meereswelt, was auch seine Küche prägt. Viele Köche, die mit Meeresprodukten arbeiten, schwören dabei auf die Qualität „Wildfang“. Aber ist das immer sinnvoll? Da die Überfischung vieler Arten langfristig ihren Fortbestand gefährdet, suchte Matsuo nach kreativen Zuchtlösungen. Ein kurzer geschichtlicher Rückblick zeigt, warum die meisten Zuchtfisch-produkte in Japan einen schlechten Ruf haben. Nach dem Krieg lag der Schwerpunkt auf der Produktion günstiger Zuchtfische, und dabei waren die Kosten der entscheidende Faktor. Matsuo wählte jedoch qualitätsbewusste Erzeuger, was natürlich auch höhere Preise bedeutet. Als Beispiel nennt er die Rote Meerbrasse (Pagrus major), die in Japan erfolgreich gezüchtet wird. Qualitativ hochwertige Meerbrassen brauchen drei volle Jahre bis zur Schlachtreife. Die niedrigen Marktpreise haben die Erzeuger jedoch bewogen, den Fisch mit Kraftfutter nur zwei Jahre oder noch kürzer aufzuziehen, dies mit vorhersehbaren Folgen für die Qualität.
Unterstützt von kompromisslosen Köchen wie Matsuo gibt es in Japan inzwischen Fischfarmen, die hochwertige Meeresprodukte zu entsprechend höheren Preisen anbieten. Diese züchten die Fische in den Becken unter weniger beengten Bedingungen über einen längeren Zeitraum, mit besserem Futter und ohne übermäßigen Einsatz von Antibiotika. Angesichts dieser Praktiken und weil er sich bewusst ist, dass die wilden Bestände geschont werden müssen, ist Matsuo überzeugt, dass die Gäste Zuchtfische nicht nur akzeptieren, sondern sogar begrüßen. Schließlich konsumieren ja wir alle, wie er betont, auch Rind-, Lamm- und Geflügelfleisch aus landwirtschaftlicher Haltung. Sein Engagement für nachhaltige Praktiken hat Michelin mit dem Grünen Stern ausgezeichnet. Dieser wird jedes Jahr an Restaurants vergeben, die sich an ethische Umweltstandards halten und mit Lieferanten zusammenarbeiten, die nachhaltige Normen einhalten.
Die Küche von Matsuo ist „kaiseki“, wie leichtes Essen in Japan bezeichnet wird. Allerdings unterscheidet er die Kaiseki-Küche in Osaka von jener Kyotos. Die Traditionen Kyotos sind aristokratisch, bedingt durch die Geschichte als kaiserliche Hauptstadt Japans. Die Kultur von Osaka hingegen war stärker kommerziell geprägt. Hier bevorzugte man intensivere und ausdrucksvollere Zubereitungen. Der bevorzugte Kombu-Seetang, eine dominante und wichtige Zutat der japanischen Dashi-Fischbrühe, illustriert den Unterschied zwischen Osaka und Kyoto. Dashi aus Osaka wird meist mit Ma-Kombu zubereitet, was eine kräftigere und dunkler gefärbte Sauce ergibt. Der Kyoto-Stil tendiert eher zu einer klaren Dashi.
Unser Abendessen Ende Mai begann mit einer meisterhaft illustrierten Geschichte. Im Juni finden in Japan bei warmem Wetter die Eisfeste statt, die in Schreinen im ganzen Land gefeiert werden. Vor dem Aufkommen der modernen Kühltechnik wurde das Eis im Winter in Berghöhlen gehortet. Bei Beginn des Sommers transportierte man dann die Eisblöcke in die Fürstenhäuser, um dort zu Beginn der brütenden Hitze für angenehmere Temperaturen zu sorgen. Matsuo erinnerte an diese Tradition, indem er uns ein von einem kühlen Gelee umhülltes Lotusblatt mit Himuro-Tofu präsentierte, das an dieses Juni-Eis erinnerte. Obenauf thronte ein wolkigweiches Stück Seeigel neben japanischem Kaviar. Knusprige Süßkartoffelwürfel gaben dem Gericht eine besondere Textur. Für pflanzliche Noten sorgten schwimmende Wasserschild-Stengel in einem Gelee, das das geschmolzene Eis des Blocks symbolisierte. Begleitet wurde diese theatralische Präsentation von einer kleinen Schale gekühltem Sake der Marke Matsunotsukasa Kimoto Junmai.
Eine Offenbarung war der folgende Gang mit Hamo- Meeraal. Meist ist Hamo ein Mauerblümchen, bescheiden in Geschmack und Konsistenz. Matsuo verlieh ihm Leben und Schwung, indem er ihn in Öl garte, was ihm eine Textur und Geschmacksintensität verlieh, wie man sie bei der herkömmlichen Präsentation nicht findet. Auf den beiden Hamo-Häufchen thronten schwarze Mu-Err-Pilze, die auf den Felsen der Gebirgsbäche wachsen, und grüner Manganji- Pfeffer, der an Paprika erinnerte. Bestimmt wurde die Textur durch die Beigabe gerösteter Pinienkerne. In jeder Hinsicht war dies eine fesselnde Zubereitung. Zum Hamo gab’s Champagner von Heidsieck.
Es folgte eine Suppe, die das Thema Eis aus dem ersten Gang wieder aufgriff, allerdings auf andere Weise als meist üblich. Statt das Eis zu zerschlagen, wodurch ungleichmäßige Formen entstehen, wurde es in diesem Gang in regelmäßigen Dreiecken serviert, gekrönt von roten Bohnen, die auf der Oberfläche wie Trittsteine wirkten. Daneben gab es Steinfisch und Gurke. Zum Ausgleich für die Reichhaltigkeit der Dashi-Brühe nach Osaka-Art ergänzte eine saure Pflaume das Ganze. Diesen Gang begleitete ein Burgunder Pinot noir Passetoutgrain der Domaine Fontaine-Gagnard.
In der Kaiseki-Küche ist das Design der Servierplatte wichtig. Die Form und das Bild passen zum Thema des jeweiligen Gangs. Für den Sashimi-Gang, der auf die Suppe folgte, war der obere Rand der Schale mit einem filigranen, an Seetang erinnernden Geflecht geschmückt. Das Sashimi mit Flunder, Stöcker, Garnele und einem blühenden Stengel des würzigen, auch als Perillo bekannten Shiso-Krauts war wie ein Porträt angeordnet. Anstelle der konventionelleren Ponzu-Sauce servierte Matsuo eine mit Bonito aromatisierte Soja-Pflaumen-Sauce und Daiginjo-Sake.
Auf die Frage nach dem Gericht, das für ihn der signature dish des „Kashiwaya“ sei, nannte Matsuo ohne zu zögern sein Soufflé. Soufflés fanden jedoch eher über die Küche zu Hause Eingang in sein Repertoire als über das Restaurant. Als er für seine Tochter ein Soufflé mit Butter und Mehl zubereitete, kam ihm die Idee für ein Soufflé ohne Butter und Mehl, das er im Restaurant als japanisches Gericht servieren wollte. Dafür entwickelte er ein Rezept mit Gemüse. An diesem Abend bestand das Soufflé aus roter Bete, verfeinert mit einer Pinienkernpaste, Bonito und kleinen Meeresschnecken. Es wurde in einer Auflaufform serviert, die in einem Holzgitter in Form eines Sake-Fasses steckte. Jeder Löffel enthüllte eine andere Dimension: süß, gefolgt von pikant und dann umami. Die Konzentration der Aromen war außergewöhnlich. Bei einem guten Wein spricht man oft von der Länge, der Nachhaltigkeit des Geschmacks im Abgang. Diese Beschreibung traf auch auf Matsuos Soufflé zu.
Anspielungen auf Eis und die Jahreszeit tauchten auch in der folgenden Zusammenstellung von drei Paarungen auf, präsentiert in drei Gläschen. Der Koch ist bestrebt, in jede Zubereitung eine kleine Überraschung einzubauen, was durch diesen Gang gut illustriert wurde. Zuerst gab’s eine Yin-Yang-Kombination aus Abalone, Gurke und Chili. Jeder Bissen enthüllte eine andere Dimension, die Kühle der Gurke oder die Schärfe des Chilis. Das zweite Gericht drehte sich wieder um Meeraal. Da Matsuo weiß, dass dessen Bestand bedroht ist, serviert er den Fisch nur noch aus nachhaltiger Zucht. Im Gegensatz zum süßlichwürzigen Charakter des Abalone-Glases gab’s hier eine pikant-süße Kombination: Meeraal, weißer Sellerie und japanischer Ingwer (Myoga). Das dritte Glas bot eine Mischung auf Gemüsebasis mit Süßkartoffel, gemahlener Kirsche, Favabohne und geriebenem Daikon (süß/säuerlich), wobei der schneeähnlich geriebene Rettich das Thema Eis zusätzlich verstärkte.
Von Ende Frühjahr bis in den Sommer steht in Japan der Ayu auf dem Speiseplan, ein kleiner Süßwasserfisch aus dem Biwa-See in der Nähe von Osaka. Matsuo grillt seinen Ayu über Binchotan-Holzkohle. Ayu, der übrigens von Kopf bis Schwanz verspeist wird, hat einen bitteren Beigeschmack, besonders ausgeprägt beim Kopf. Mit Matsuos Tade-Essig, den er zum gegrillten Fisch reicht, entsteht eine interessante Chemie. Tade heißt der Japanische Wasserpfeffer oder Pfefferknöterich (Persicaria hydropiper), der in Asien überaus beliebt ist. Er hat einen würzigen, an Orangenschalen erinnernden Geschmack und verleiht dem Essig seine grüne Farbe. Beim Eintauchen in den Tade-Essig verschwindet die natürliche Bitterkeit des Fisches, und die Kombination bietet eine wunderbare und unerwartete Süße.
Der Gemüsegang wurde in einer abgedeckten Schale serviert, die mit einem japanischen Regenschirm- Motiv geschmückt war. Die saisonale Kombination bestand aus Auberginen, Taro, mit Algen gefärbtem Weizengluten (aonori-fu) und einem kleinen Blatt Tofuhaut (yuba). Feine Fäden von mildem Ingwer bedeckten das Ganze und brachten Leben in die Zusammenstellung.
Traditionell endet die Parade der schmackhaften Kaiseki-Gänge mit Reis, der in einem riesigen Kessel präsentiert und in jeder gewünschten Portionengröße serviert wird. In diesem Fall verlieh Matsuo dem Reis eine zusätzliche Dimension, indem er ihn zusammen mit weißem Mais kochte. Die Mais-Reis-Mischung wurde mit mariniertem kaltem Oktopus, Grunzer (einem barschähnlichen Fisch), Gurken, Shiso-Pfeffer, Myuga und Pflaumen belegt. Der eingelegte Fisch, das Gemüse und der Pfeffer verliehen dem Reis eine interessante Würze.
Andy Warhol hatte seinen Auftritt beim ersten Dessertgang. Leuchtend bunte Kreise waren ein wiederkehrendes Thema in Warhols Werken, und sie inspirierten Matsuo nach dem Besuch einer Ausstellung zu diesem Dessert. Es ist Warhols Design nachempfunden und setzt sich aus kleinen Kugeln von Früchten zusammen: Kirsche, Traube, grüne Melone, Ananas, Kiwi und Wassermelone. Der Glanz eines italienischen Weißwein-Honig-Gelees verlieh den Farben zusätzliche Leuchtkraft.
Zum Abschluss des Essens bereitete Matsuo ein Stück hisui (Jadegelee) zu, bestehend aus Würfeln von weißem Sojamilchgelee in einer Sauce aus Kandiszucker. Mit den weißen Sojawürfeln schloss sich der Kreis zum Eröffnungsthema Eis.
In der Innenstadt von Osaka hat Matsuo ein zweites, kleineres Restaurant im Obergeschoss eines Büro-Restaurant-Gebäudes eröffnet. Geleitet wird es von Küchenchef Takahashi, der seine kulinarische Laufbahn neunzehnjährig begann und seit 28 Jahren mit Matsuo zusammenarbeitet. Hier ist der Service an der Theke zwangloser, der Stil jedoch ebenfalls von Matsuo geprägt. Bei der Qualität gibt es keine Kompromisse, denn das als „Kashiwaya Kitashinchi“ bekannte Lokal, das wir am nächsten Tag besuchten, hat ebenfalls einen Michelin-Stern erhalten. Seine etwas weniger aufwendige Küche passt zum zwangloseren Ambiente und greift ebenfalls das Eis-Thema auf. Es wurde hier jedoch anders umgesetzt. Der ersteGang mit Seeigel, Garnele, Süßkartoffel, Wasserschild, Shiso-Blatt und Okra wurde in einer Vertiefung in einem riesigen Block klarem Eis serviert. Ungewöhnlich in Japan war die Ente, die in einem der Gänge des Kaiseki-Menüs auf den Tisch kam. Die perfekt rosa gebratenen Brustscheiben wurden mit Auberginen, Shishito-Pfeffer und Senf serviert.
Michelin vergibt seine Sterne nicht einfach so, und es ist immer eine große Leistung, damit ausgezeichnet zu werden. Hideaki Matsuo, der jetzt vier Sterne und den wichtigen Grünen Stern besitzt, zieht begeisterte Feinschmecker aus ganz Japan und Touristen aus dem Ausland an, die ein besonderes kulinarisches Erlebnis suchen.
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