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Kapitel 3

WENN EIN VULKAN den Ozean verbrennt

Wie das Korallenriff aus der Asche wiederaufersteht.

Autoren der Kapitel

LAURENT BALLESTA

Autoren der Kapitel

LAURENT BALLESTA
WENN EIN VULKAN den Ozean verbrennt
WENN EIN VULKAN den Ozean verbrennt
Ausgabe 18 Kapitel 3
Die untermeerischen Lavaströme bestehen wegen der raschen Abkühlung aus einem sehr weichen Kissenbasalt. Jetzt, zehn Jahre nach der Eruption, sind ihre Kreten und Kanten noch sichtbar, sie werden jedoch schon bald durch die Erosion abgetragen oder unter den Kalkablagerungen der Korallen verschwinden.

Die untermeerischen Lavaströme bestehen wegen der raschen Abkühlung aus einem sehr weichen Kissenbasalt. Jetzt, zehn Jahre nach der Eruption, sind ihre Kreten und Kanten noch sichtbar, sie werden jedoch schon bald durch die Erosion abgetragen oder unter den Kalkablagerungen der Korallen verschwinden.

Die Lavaströme flossen bis in eine TIEFE VON ÜBER 800 METERN.

April 2007. Der Vulkan Piton de la Fournaise auf der Insel Réunion im Indischen Ozean beginnt auszubrechen. Selbst für diesen ungewöhnlich aktiven Vulkan ist die Eruption außergewöhnlich, stärker als je seit 30 Jahren. Die Lavaströme erreichen den Ozean und zerstören alles, was in ihrer Bahn liegt, ob auf der Erde oder dem Meeresgrund.

Im Februar 2017, zehn Jahre später, ankert unser Boot vor den Basaltfelsen, den erstarrten Resten der Lavaströme von 2007 und stummen Zeugen dieser Naturkatastrophe. Was werden wir hier beim Tauchen entdecken?

Was werden wir hier sehen, zu Füßen dieser Küste, über die damals 130 Millionen Kubikmeter Lava hinunterflossen? Die Ausläufer der flüssigen Gesteinsströme erstarrten erst in einer Tiefe von 800 Metern. In ihrem Bereich wurde alles zerstört, nicht nur die Korallen und sämtliche am Fels lebenden Tiere und Pflanzen, sondern auch die Fische in der Nähe. Sie wurden regelrecht gekocht und trieben meilenweit in der Umgebung auf dem Meer.

An diesem Tag hatte sich das ÜberseeDepartement La Réunion vergrößert, so dass Frankreich ohne jegliche Anstrengung 45 Hektar Territorium dazugewann, eine zunächst unwirtliche „jungfräuliche Erde“. Zwei Jahre dauert es, bis die ersten Moose und Flechten auf dem Basalt Fuß fassen und seine Oberfläche zu zersetzen beginnen. Nach acht Jahren erobern Farne den Ort, nach zwölf Jahren schlagen erste Sträucher Wurzeln. Es braucht drei Jahrhunderte, bis ein Wald entsteht und nochmals vierhundert Jahre, bis er als „Primärwald“ alle sichtbaren Spuren dieser Katastrophe gelöscht hat. Eine solche Abfolge der Pflanzengesellschaften wird hier jedoch nicht stattfinden, denn mindestens seit 1640 (Datum der ersten Berichte) finden die Eruptionen wesentlich häufiger statt: Wenigstens einmal pro Jahr gibt es kleinere Ausbrüche und alle zehn bis dreißig Jahre gewaltigere, die Terrain schaffen, aber Leben zerstören.

Und was geschieht unter der Meeresoberfläche? Wie kommt die Unterwasserwelt wieder zu ihrem Recht? Geschieht es in der Nähe der Oberfläche auf dieselbe Weise wie in großer Tiefe, wo kein Taucher je hinabgestiegen ist? Es wird Zeit, selbst nachzuschauen und das Geschehen so gut wie möglich zu erforschen. Wir müssen von der günstigen Wetterlage profitieren; das Meer ist glatt, der Seegang ruhig, wir befinden uns jedoch in einer Periode mit hoher Zyklonenaktivität, und die Wetterkarten zeigen ein Tief an, das sich im Osten bildet, mitten im Indischen Ozean. Wir müssen so rasch wie möglich mit den Tieftauchgängen beginnen und sie in den folgenden zehn Tagen so lang wie möglich ausdehnen. Denn der nächste Sturm, der die Küste heimsucht und das Wasser aufwühlt, bedeutet das Ende unserer Mission.

Derzeit ist das Wasser kristallklar, die Sonne steht hoch am Himmel, und als ich beim Abstieg nach 100 Metern innehalte, bin ich fasziniert von der Sicht, die sich mir bietet. Das Bild ist ein wenig beängstigend, ein postapokalyptischer Dekor: Fels und Sand sind schwarz, ein mineralisches Chaos, das entfernt einer Wüste ähnelt. Man könnte glauben, die Eruption habe gestern stattgefunden, nicht vor zehn Jahren. Die Geröllzonen heben sich klar von massiveren Zonen ab, die wie endlose schwarze Schlangen von der Oberfläche her abtauchen und im Dunkel der Tiefsee verschwinden. Ich bemerke zudem Haufen von „Lavakissen“. Diese mehr oder weniger sphärischen, aneinanderklebenden Formen entstehen, wenn leichtere Lava zu Kugeln erstarrt, die zerbrechen und aus ihrem noch flüssigen Kern neue Lavakugeln gebären, was sich vielfach wiederholen kann…

In der Nähe der Oberfläche haben die Lavaröhren bereits ihren Deckel verloren, so dass nur noch die zylindrischen Rinnen übrig bleiben, die nun allmählich von Buschkorallen der Gattung Pocillopora besiedelt werden.

In der Nähe der Oberfläche haben die Lavaröhren bereits ihren Deckel verloren, so dass nur noch die zylindrischen Rinnen übrig bleiben, die nun allmählich von Buschkorallen der Gattung Pocillopora besiedelt werden.

ES IST EINE REVOLUTION IN TECHNICOLOR, als wollte die Natur gegen dieses endzeitliche Grau protestieren.

Langsam erreichen wir den Grund, hier in 120 Metern Tiefe. Aus der Nähe stellen wir fest, dass der vulkanische Fels nicht so steril ist, wie ich anfangs dachte. Kalkalgen haben ihre Maurerarbeit begonnen. Die Blöcke werden nach und nach vom Pflanzenzement überzogen. Es ist eine Art blättriger, rötlicher, an Grabsteinblumen erinnernder Mörtel, der hier den Vulkanfels aufhellt und ihm eine Zukunft schenkt: Das ist zweifellos die erste Etappe einer dauerhaften Neubesiedelung durch lebendige Organismen. Die Kalkalgen stabilisieren den Grund und machen ihn für Larven von Wirbellosen zugänglich, die einen soliden, dauerhaften Untergrund benötigen. Hier und dort entdecken wir kleine Gorgonien oder Seefächer, eine Weichkorallenart, sowie Schwämme. Schaut man genauer hin, sind die Hohlräume bewohnt. Sie sind ein Refugium für Krebse und Fische, Tiefseearten wie Fahnenbarsche und Demoiselles, von denen manche noch nie lebend beobachtet wurden. Die Überraschung war groß, als ich einige erkannte, denen ich bei meiner allerersten GombessaMission in den tiefen Höhlen des berühmten Quastenflossers vor der Küste Südafrikas begegnet war.

Zwischen den schwarzen, mit roten Kalkalgen gefleckten Basaltfelsen dehnen sich breite, schwarze Sandflächen gegen den Meeresgrund aus. Ich habe noch nie zuvor einen losen Grund mit derart steilem Gefälle gesehen, das manchenorts bis zu 45 Grad erreicht. Auch hier verändert sich das Aussehen des vermeintlich schwarzen Substrats aus nächster Nähe vollständig. Es besteht aus Olivinkristallen, die wie gold- und smaragdfarbene Glassplitter wirken. Diese abschüssige, schräge Wüste durchstreifen kleine, jedoch bemerkenswerte und seltene Fische. Der Orientalische Flughahn spielt die Karte der Tarnung aus, um sich handkehrum wieder deutlich zu zeigen, indem er seine breiten farbigen Brustflossen entfaltet und im schwarzen Sand wie ein Komet aufglüht. Leuchtende Feuer-Schwertgrundeln, fuchsiafarbene Kakadu-Schaukelfische, leuchtend gelbe junge Kanarien-Lippfische… Sie scheinen sich untereinander abgesprochen zu haben, als wollten sie mit ihren strahlenden Technicolor-Farben gegen die Ödnis dieses Weltende-Dekors protestieren.

Die Geister-Scherengarnele (Stenopus pyrsonotus) kommt nur in Meerestiefen unter 100 Metern oder in höher gelegenen, aber genügend dunklen Höhlen vor.

Die Geister-Scherengarnele (Stenopus pyrsonotus) kommt nur in Meerestiefen unter 100 Metern oder in höher gelegenen, aber genügend dunklen Höhlen vor.

Links: Larven und Jungfische wie dieser Messerlippfisch (Iniistius pavo).
Rechts: Die Dekor-Schwertgrundel (Nemateleotris decora).

Links: Larven und Jungfische wie dieser Messerlippfisch (Iniistius pavo).
Rechts: Die Dekor-Schwertgrundel (Nemateleotris decora).

Der Orientalische Flughahn (Dactyloptena orientalis).

Der Orientalische Flughahn (Dactyloptena orientalis).

WENN EIN VULKAN den Ozean verbrennt

HIER HABEN DIE RIFFBAUENDEN KORALLEN ihre unermüdliche Arbeit wieder aufgenommen.

Wir steigen wieder gegen die Oberfläche. Die endlosen Dekompressionsstufen finden vom Grund her alle fünf bis zehn Meter statt. Hier haben die riffbildenden Korallen ihre unermüdliche Bautätigkeit aufgenommen. Auf den eingestürzten Resten eines gewaltigen Lavatunnels haben die „Blumentiere“ ihr Werk begonnen, ohne sich um ihre Zukunft zu sorgen, welcher schon der nächste Lavastrom ein Ende setzen kann. Langsam, aber hartnäckig stellt sich ein Ökosystem ein. Der kleine Korallenbusch vor meinen Augen kann nicht älter als zehn Jahre sein. Dennoch beherbergt er im Flechtwerk seiner Äste bereits den flauschigen Samtfisch.

In den folgenden Tagen glichen unsere Tauchgänge Reisen in die Zukunft. Beim Erforschen von älteren Lavaströmen wie jenem, der 1977 einen Teil der Stadt SainteRose verwüstete, haben wir heute vor Augen, wie das Leben auf dem Ergussgestein von 2007 in dreißig Jahren aussehen wird. Der Unterschied ist eindeutig. Ab einer Tiefe von 80 Metern ist der schwarze Vulkanfels nicht mehr sichtbar, da die Kalkalgen ihn überzogen und aufgehellt haben. Die Form der Lavabahnen ist nach wie vor erkennbar, das Relief jedoch weniger chaotisch, weniger ausgeprägt. Das Unterwasserleben hat seine organische Patina darüber ausgebreitet, den Fels geglättet und die Eruptionswunden verbunden. Die Fische sind zahlreicher, und Kolonien von verzweigten, rosafarbenen Filigrankorallen der Gattung Stylaster prägen und dominieren die Landschaft.

Der gefleckte TiefwasserFahnenbarsch (Odontanthias borbonius) kommt nur in Tiefen unter 100 Metern vor. Obwohl der Fisch bei Aquarienliebhabern sehr gesucht ist, existierte zuvor keine Aufnahme dieser Barschart in ihrem natürlichen Lebensraum.

Der gefleckte TiefwasserFahnenbarsch (Odontanthias borbonius) kommt nur in Tiefen unter 100 Metern vor. Obwohl der Fisch bei Aquarienliebhabern sehr gesucht ist, existierte zuvor keine Aufnahme dieser Barschart in ihrem natürlichen Lebensraum.

An den von uns erforschten Abhängen konnten wir beobachten, dass sich die Männchen des Malediven-Fahnenbarsches (Pseudanthias pulcherrimus) gerne an der Grenze der Sprungschicht (Metalimnion) aufhalten, über der die Wassertemperatur stark ansteigt.

An den von uns erforschten Abhängen konnten wir beobachten, dass sich die Männchen des Malediven-Fahnenbarsches (Pseudanthias pulcherrimus) gerne an der Grenze der Sprungschicht (Metalimnion) aufhalten, über der die Wassertemperatur stark ansteigt.

Die deutsch Schwalbenschwänzchen genannte Riffbarschart Chromis axillaris wurde auf La Réunion erstmals nach dem Vulkanausbruch von 2009 zoologisch beschrieben, als die verbrühten Fische auf der Meeresoberfläche trieben. Sie war unbemerkt geblieben und vorher auch nie fotografiert worden, obwohl diese Art in Tiefen um 100 Meter sehr häufig ist.

Die deutsch Schwalbenschwänzchen genannte Riffbarschart Chromis axillaris wurde auf La Réunion erstmals nach dem Vulkanausbruch von 2009 zoologisch beschrieben, als die verbrühten Fische auf der Meeresoberfläche trieben. Sie war unbemerkt geblieben und vorher auch nie fotografiert worden, obwohl diese Art in Tiefen um 100 Meter sehr häufig ist.

EIN ERNEUTER BEWEIS, DASS DER BEGRIFF DER SELTENHEIT ZIEMLICH RELATIV SEIN KANN UND VOR ALLEM VON DER SCHWIERIGKEIT ZEUGT, die großen Meerestiefen zu erforschen.

Weitere Tauchgänge sollten uns danach noch tiefer hinunterführen, bis auf 120 Meter unter der Oberfläche, zu noch älteren Standorten, die wie die ganze Insel Réunion vulkanischen Ursprungs sind. Wie und wann sie entstanden, daran kann sich hier niemand erinnern, da die Eruptionen möglicherweise viele tausend Jahre zurückliegen, weit über unser kollektives Gedächtnis hinaus. Dort entdecken wir mehrere Meter hohe Bäume der Schwarzen Koralle. Auf einem imposanten Bett von Rosa-Korallen liegt ein riesiger rotweißer Seestern, der mir das Gefühl gibt, einen alten Kameraden wiedergefunden zu haben. Diese seltene, in der Tiefe vorkommende Art, die noch nie beschrieben wurde und deshalb keinen wissenschaftlichen Namen hat, ist eine alte Bekanntschaft von mir. Ich konnte einen solchen Seestern bereits vor einigen Jahren in der gleichen Tiefe, jedoch in einem anderen Ozean fotografieren. Das beweist erneut, dass der Begriff der Seltenheit ziemlich relativ und irreführend sein kann, da er vor allem von der Schwierigkeit zeugt, die großen Meerestiefen zu erforschen.

Die beeindruckende Größe dieser alten Gorgonien oder Seefächerkorallen beweist, dass die Lebensbedingungen hier seit langem stabil sind und in diesem Teil der Insel seit mindestens einem Jahrhundert keine Lava mehr ins Meer geflossen ist.

Die beeindruckende Größe dieser alten Gorgonien oder Seefächerkorallen beweist, dass die Lebensbedingungen hier seit langem stabil sind und in diesem Teil der Insel seit mindestens einem Jahrhundert keine Lava mehr ins Meer geflossen ist.

Dieser riesige Seestern ist bis heute noch nie beschrieben worden und hat denn auch noch keinen wissenschaftlichen Namen. Dabei kommt er im Indopazifik mindestens von der Insel La Réunion bis zum neukaledonischen Archipel vor.

Dieser riesige Seestern ist bis heute noch nie beschrieben worden und hat denn auch noch keinen wissenschaftlichen Namen. Dabei kommt er im Indopazifik mindestens von der Insel La Réunion bis zum neukaledonischen Archipel vor.

WENN EIN VULKAN den Ozean verbrennt
In 70 Metern Tiefe tummeln sich Schwärme von weiblichen MaledivenFahnenbarschen (Pseudanthias pulcherrimus) zwischen den Fächern von Filigrankorallen der Gattung Stylaster.

In 70 Metern Tiefe tummeln sich Schwärme von weiblichen MaledivenFahnenbarschen (Pseudanthias pulcherrimus) zwischen den Fächern von Filigrankorallen der Gattung Stylaster.

ICH DENKE WIEDER AN DIESEN VULKAN, DER VOR ZEHN JAHREN DEN OZEAN VERBRANNTE. Bloß ein Schlag ins Wasser, zumindest auf lange Sicht gesehen.

Am nächsten Tag traf der Tropensturm ein. Fast eine ganze Woche lang regnete und stürmte es unaufhörlich. Das schlechte Wetter und der hohe Seegang verunmöglichten jeden erneuten Tauchgang zum Abschluss unserer Mission. Schade, aber auch nicht so wichtig: Der Griff nach dem unerreichbaren Stern ist ein Unternehmen mit großer Zukunft. Es wird andere Forschungsprojekte geben.

Ich denke wieder an diesen Vulkan, der vor zehn Jahren den Ozean verbrannte. Bloß ein Schlag ins Wasser, zumindest auf lange Sicht gesehen. Denn selbst wenn das Leben tödlich ist, beginnt es immer wieder neu, während das Mineral, das beständig scheint, sich früher oder später verändert und zerstreut. Das Leben ist aus Wasser geschaffen, und Wasser ist stärker als Feuer, jeder Mensch weiß das.

Kapitel 04

Das Haus FÜR GEHÄUSE

Ein Einblick in die Kunst der Uhrgehäusefertigung.

Autoren der Kapitel

JEFFREY S. KINGSTON
Das Haus FÜR GEHÄUSE
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