Kapitel 5
Bericht über eine wissenschaftliche Suche in der Tiefsee in einem der abgeschiedensten Archipele Indonesiens.
Dieser Archipel mit seinem exotischen Namen, einst Ausgangspunkt des höchst einträglichen Gewürzhandels und damit der europäischen Begehrlichkeiten, scheint heute teilweise in Vergessenheit geraten zu sein. Dabei war es gerade der Wunsch der Länder des Alten Kontinents, diese Region zu erobern, der all die großen Expeditionen zu Ende des Mittelalters auslöste. Hätte Christoph Kolumbus nicht nach einem neuen Weg gesucht, um zu diesen geheimnisumwitterten Gewürzinseln zu gelangen, hätte er die Neue Welt nicht 1492 wiederentdeckt, ein halbes Jahrhundert nach den Wikingern.
Die Molukken gehören heute zu Indonesien, diesem riesigen archipelagischen südostasiatischen Staat mit schier unzähligen Inseln. Sie sind in die beiden Provinzen Nord- und Südmolukken unterteilt. Die Inselgruppe liegt im Herzen dessen, was die Geowissenschaft auch das Korallendreieck nennt. Dieser Begriff bezeichnet ein Gebiet von größter ökologischer Bedeutung, handelt es sich doch um ein Epizentrum der marinen Biodiversität. Es umfasst die Staaten Indonesien, Malaysia, Philippinen, Papua-Neuguinea, Timor-Leste (Osttimor) und Salomonen. Dieser „Hotspot“ beherbergt die weltweit größte Zahl und Vielfalt an marinen Lebensformen. Über 600 Arten von Hartkorallen – fast 80 % der bisher weltweit bekannten Arten – sind das Habitat von mehr als 2000 Fischarten und sechs der sieben existierenden Meeresschildkröten-Spezies, die alle weltweit vom Aussterben bedroht sind. Die Region ist für viele menschliche Gemeinschaften von entscheidender Bedeutung, die hier in den abgelegensten Gebieten ihren Lebensunterhalt noch immer mit sehr traditionellen Fischereitechniken bestreiten.
Dennoch sind die vom Menschen verursachten Umweltbedrohungen auch hier zahlreich und bereits deutlich spürbar. Tourismus und Intensivfischerei bringen zwar beträchtliche Mittel ein, schwächen jedoch die Meeresökosysteme schon kurzfristig bedrohlich, vor allem wenn die Folgen des Klimawandels hinzukommen.
Aus wissenschaftlicher Sicht wurden den Molukken im Vergleich zu den Nachbarprovinzen relativ wenige Studien gewidmet, seit im 19. Jahrhundert der englische Naturforscher Alfred Russel Wallace (1823–1913) – der Mitbegründer der Evolutionstheorie – zusammen mit seinem weitaus berühmteren Kollegen und Freund Charles Darwin, in dessen Schatten er stand, die Inseln besuchte. Tatsächlich scheinen sich die jüngsten wissenschaftlichen Arbeiten auf die umliegenden Inseln und Archipele konzentriert zu haben, die bevölkerungsreicher oder vom Tourismus stärker frequentiert sind: Bali, Sulawesi, Raja Ampat ... Dabei stehen die Molukken mit dem herrlich klaren Wasser an ihren Stränden den Nachbarinseln in nichts nach. Alfred Wallace schrieb bei seiner Ankunft im Hafen von Banda Neira, einer Insel der Südmolukken, von dem aus jahrhundertelang Muskatnüsse exportiert wurden: „Banda ist ein reizender kleiner Ort, dessen drei Inseln einen sicheren Hafen umgeben, wo man keine Handelsniederlassungen sieht und dessen Wasser so klar ist, dass die Korallen und selbst kleinste Objekte auf dem vulkanischen Sand bis in eine Tiefe von 7 oder 8 Faden [15 Meter] gut sichtbar sind.“
Deshalb gibt es in dieser Region der Welt noch viele wissenschaftliche Geheimnisse zu lüften, insbesondere in der Bandasee in der Südprovinz des Archipels, die an einigen Stellen Rekordtiefen von über 6000 Metern erreicht. Es ist ein Durchgangs- oder Lebensraum für viele Meeressäuger, darunter ihre größten Vertreter, die Blau- und Pottwale. Aber auch andere seltsame Kreaturen bevölkern diese Gewässer, etwa das Papierboot oder Nautilus, ein Tintenfischverwandter. Möglicherweise kommt auch der berühmte indonesische Quastenflosser (Latimeria menadoensis) in den unerforschten Tiefen dieses riesigen Gebiets vor. Schließlich wurde dieser symbolträchtige Fisch – ein lebendes Fossil und wichtiges Bindeglied in der Evolution der Landwirbeltiere – bereits weiter westlich in Sulawesi und östlich in Papua-Indonesien gesichtet.
Ein weiterer interessanter Aspekt dieses Teils von Indonesien ist, dass er sich östlich der nach Wallace benannten Linie befindet, die den indonesischen Archipel durchschneidet. Diese imaginäre Grenze, die mit einigen Anpassungen auch heute noch gültig ist, verläuft vertikal durch Indonesien, und zwar durch die Straße von Lombok, die die Inseln Bali und Lombok trennt, und die Straße von Makassar zwischen den Inseln Borneo und Sulawesi. Dort findet man auf der westlichen Seite eine asiatische und im Osten eine eher australische Fauna. Wallace begründete seine Theorie hauptsächlich mit Beobachtungen an landlebenden Wirbellosen, Vögeln, Säuge- und Beuteltieren. Doch wie sieht es unter Wasser aus? Setzt sich diese Trennung im Meer fort?
Diese Fragen sollte die von Blancpain unterstützte Expedition Deep Reefs of the Far East klären, die von der französischen Organisation UNSEEN (Underwater Scientific Exploration for Education) und ihren indonesischen Mitarbeitern an der Universität Pattimura in Ambon geleitet wurde.
Der erste Teil von 2022 konzentrierte sich auf die Bandasee, wo erstmals in Tiefen von über 100 Metern technische Tauchgänge mit geschlossenen Kreislaufgeräten durchgeführt wurden, um bisher unbekannte Lebensräume und Tiere zu dokumentieren. Die Suche nach neuen Meeresbewohnern – Fischen, Schwämmen und Korallen –, die Untersuchung der Plastikverschmutzung und das unausgesprochene Ziel, die Lebensräume einer bisher unbekannten Population von Quastenflossern zu finden, waren die Triebfedern für dieses riskante menschliche und wissenschaftliche Abenteuer!
Noch nie zuvor hatte ein Taucher in dieser abgelegenen Region Indonesiens solche Tiefen erreicht. Die Schwierigkeiten, derartige Expeditionen in so abgelegenen Gebieten durchzuführen, ist für viele Abenteurer ein Hindernis. Wir mussten bei der Zentralregierung die erforderlichen Forschungsgenehmigungen einholen, genügend finanzielle Mittel aufbringen, Sauerstoff und Helium für unsere Atemluftmischungen beschaffen und den Versand von mehr als zwei Tonnen Ausrüstung von Bali und Jakarta in die Provinzhauptstadt Ambon organisieren. Zum Glück hatten wir in den vielen Jahren, die wir bereits in Indonesien verbracht hatten, ein Netzwerk zuverlässiger Partner aufgebaut. Mit ihrer Hilfe konnten wir alle Probleme lösen, auf die wir oft erst in letzter Minute stießen. Wie soll man zum Beispiel 48 Kubikmeter Helium von Jakarta nach Ambon schicken, wenn der Kapitän des Schiffs plötzlich seine Meinung ändert und sich weigert, die acht Flaschen an Bord zu nehmen, die gerade am Kai angeliefert worden sind? Wie kann man Material, das in einem Container auf einem Schiff festsitzt, das gerade in Jakarta ablegen will, noch rechtzeitig abholen und per Express weiterschicken, obwohl es eigentlich schon zwei Wochen vor Projektbeginn in Ambon hätte eintreffen sollen? Dies sind nur zwei der Unwägbarkeiten, die unser kleines Team von Enthusiasten in wenigen Stunden lösen musste, um das Projekt erfolgreich und pünktlich abzuschließen. Ganz zu schweigen von den Anfang 2022 in die Höhe schießenden Ölpreisen, die das Budget der Expedition stark belasteten ... Nachdem diese unzähligen administrativen, finanziellen und logistischen Hürden genommen waren (und es waren viele!), ging es am 12. Oktober 2022 endlich los, und wir setzten die Segel für eine dreißigtägige Mission rund um die mythischen Inseln in der riesigen Bandasee.
Zunächst machen wir einen Aufwärmtauchgang in 87 Meter Tiefe vor der Insel Maulana östlich unseres Ausgangshafens. Dann nimmt unser Schoner Kurs auf das mehr als 12 Stunden entfernte Banda Neira. Die nächtliche Überfahrt verläuft reibungslos, und die Besatzung ist offenbar sehr seeerfahren.
Banda Neira. Was für ein mythischer Name. Die Aura, die er ausstrahlt, passt wunderbar zum strahlenden Sonnenaufgang auf dieser Insel, als wir gegen 6 Uhr morgens ankommen. Es ist kaum zu glauben, dass von hier aus jahrhundertelang Schiffe in See stachen, deren Laderäume bis zum Rand mit Muskatnüssen gefüllt waren, die man in Europa seit dem Mittelalter so sehr schätzte. Damals konnte sich ein gewiefter Seemann mit dem Erlös eines Sacks der wertvollen Fracht ein kleines Haus und ein paar Bedienstete leisten und so bis ans Ende seiner Tage leben, ohne jemals wieder arbeiten zu müssen.
Obwohl unsere Tauchgänge der biologischen und ökologischen Forschung gewidmet sind, ist es angesichts der Geschichte dieser Region und der Jahrhunderte des Handels, die in ihren Gewässern stattfanden, ein Traum, auf ein Wrack eines dieser von reichen chinesischen, arabischen und später westlichen Händlern gecharterten Schiffe zu stoßen. Wir würden die Biologie und Ökologie gerne vorübergehend gegen Archäologie eintauschen, eine ebenso spannende Disziplin. Doch auf unseren vielen tiefen Tauchgängen in den Gewässern um diese üppig grüne Inseln fanden wir keine Spur eines jahrhundertealten Wracks. Das wurde jedoch mehr als wettgemacht durch die Fülle an Leben, die wir bei unseren Tauchgängen zu Gesicht bekamen.
Für diese erste Woche der Expedition hat uns die National Geographic Society eine von ihren Wissenschaftlern entwickelte Video-Tiefseekamera zur Verfügung gestellt, die stundenlang in Tiefen bis 3500 Meter filmen kann.
Jonatha Lauren Giddens, Doktorin der Naturschutzbiologie sowie Tiefsee-Expertin, ist ebenfalls dabei, um uns mit ihrer Erfahrung beim Einsatz dieses futuristisch gestalteten Geräts zu unterstützen, damit wir unser Forschungsfeld erweitern und Tiefen dokumentieren können, die für Taucher unerreichbar sind. Dabei hängt die Kamera jeweils mehrere Stunden in 160 bis 430 Metern Tiefe und zeichnet alles auf, was ihr vor die Linse kommt. Tiefseehaie, Nautilus-Papierboote und unbekannte Fische zeugen von den Geheimnissen, die unter dem hohen Druck da unten leben. Die so dunklen und undurchdringlichen Umgebungen, in denen sich diese Tiere bewegen, wirken wie Tarnkappen, die sie vor dem Blick des Menschen bewahren sollen.
Mit ihren beiden LED-Leuchten und einem Köder, der die Fleischfresser der Tiefsee anlocken soll, gleitet die Kamera mühelos zum Meeresboden und entlockt ihm einige Stunden Videomaterial, bevor sie nach Ablauf der Zeit wie ein Korken an die Oberfläche steigt, ohne sich um lange Dekompressionsstopps kümmern zu müssen. Sie bietet uns mehrere Stunden wissenschaftlichen Voyeurismus, der uns ein besseres Verständnis der Arten ermöglicht, die diese dem Sonnenlicht entzogene Welt bevölkern.
Was für eine Überraschung, als in 300 Metern Tiefe ein Indonesischer Hundshai (Hemitriakis indroyonoi) vorbeizieht ... Diese tropische Hundshaiart wurde erstmals 2009 anhand eines noch nicht adulten Männchens beschrieben, das auf einem Fischmarkt in Bali angebotenen wurde. Die Art wird von der IUCN bereits als vom Aussterben bedroht eingestuft. Unser Video ist wahrscheinlich das einzige eines solchen Hais in seiner natürlichen Umgebung! In den weiteren Aufzeichnungen teilte sich der wunderschöne Spitzkopf-Siebenkiemerhai oder Perlon (Heptranchias perlo) mit einer riesigen Muräne in einem improvisierten Unterwasserballett die Bühne in 180 Metern Tiefe.
Die Tieftauchgänge gehen abwechselnd mit der Kamera oder Tauchern weiter, während ein anstrengender Tag dem andern folgt.
Am 15. Oktober erfreute uns schon um 5:30 Uhr eine Gruppe Studenten und lokaler Forscher – angeführt von der durch die Forscherin und Meeresbiologin Mareike Huhn mitgegründeten indonesischen NGO Luminocean – mit einer positiven Antwort auf unsere Einladung und besuchte uns an Bord, damals in der Nähe von Banda Neira. Wir konnten ihnen von unserer Mission erzählen, die Funktionsweise unserer Kreislauftauchgeräte erklären und die NGS-Tiefseekamera demonstrieren. Sie waren begeistert, als wir ihnen die wenigen Bilder zeigten, die wir zu Beginn unserer Mission bei den ersten Tauchgängen in Tiefen von 100 bis 500 Fuß [30–150 m] sammeln konnten. Die immer zahlreicheren Touristenboote, die Taucher in alle Ecken der Bandasee bringen, bedrohen mit ihren Ankern und Ketten den Reichtum und die Biodiversität dieser bisher unsichtbar gebliebenen Zonen.
Diesen Reichtum kennen die lokalen Gemeinschaften aus Erfahrung, sie schätzen und nutzen ihn insbesondere durch das traditionelle Angeln an den Steilwänden.
Einer der Forscher bat uns, ihm einige unserer Aufnahmen zu überlassen, damit er sie den lokalen Behörden zeigen und sie ermutigen könne, die Region besser vor dieser wachsenden neuen Bedrohung zu schützen, die typisch für das 21. Jahrhundert ist, in dem Freizeitaktivitäten im Vordergrund stehen. Damit gewannen unsere Bilder plötzlich eine sehr konkrete Dimension.
Einige Tage später beehrte uns Mark Erdmann, Doktor in Meeresökologie und Experte für Korallen-Ökosysteme, mit seinem Besuch an Bord und teilte unseren Alltag drei Tage lang, dies als eine kleine Auszeit von seinem extrem vollen Terminkalender. Mark Erdmann, heute Vizepräsident der Asien-Pazifik-Programme der NGO Conservation International, ist seit langem mit Indonesien verbunden, wo er seit über zwanzig Jahren arbeitet. Während seiner Doktorarbeit über Sulawesi anno 1997 entdeckten er und seine Frau auf einem Fischmarkt in Manado das erste indonesische Exemplar des Quastenflossers. Die Entdeckung erregte damals großes Aufsehen, und einige Jahre später wurde bestätigt, dass sich diese Spezies deutlich von der auf den Komoren gefundenen Art Latimeria chalumnae unterscheidet. Wir tauschten uns intensiv aus und hörten beim Abendessen einige spannende Anekdoten über die einzigartigen Ereignisse in der Karriere dieses Mannes, der für die Beschreibung zahlreicher Fischarten im Indopazifik verantwortlich ist.
Zu diesem Zeitpunkt hat sich unser Team bereits eingespielt, und die Tage an Bord des Tauchschoners vergehen wie im Flug. Die Protokolle sind inzwischen zur Routine geworden. Die technischen Taucher gleiten Tag für Tag unermüdlich entlang der manchmal schwindelerregenden Steilwände der Koralleninseln oder noch aktiven Vulkane in die Tiefe. Sie sammeln Wasser und Sedimente, um die Mikroplastikkonzentration in den tiefen Riffen zu analysieren, sowie Schwammteile und Korallen der mesophotischen Zone, um die Arten zu bestimmen, und machen natürlich Fotos und Videos in hoher Auflösung, um diese Unterwasserwelten zu dokumentieren.
In der Folge erreichen wir die abgelegensten Gebiete der Bandasee, die wir von West nach Ost und von Nord nach Süd durchqueren. Die Seemeilen summieren sich, und unser Schiff ermöglicht uns den Zugang zu den unberührtesten Gebieten dieser indonesischen Provinz. Die Koralleninseln mit ozeanischem Einfluss, die sich im kristallklaren Wasser der westlichen Bandasee gebildet haben, unterscheiden sich von jenen in den wärmeren Zonen im Osten, wo das Wasser trüber ist. Die biologische Vielfalt ist jedoch ebenso außergewöhnlich. Die mit weißem Sand und Kalkstein bedeckten Korallenabhänge bilden einen Gegensatz zu den im Meer erstarrten Lavaströmen der Vulkaninseln mit ihrem dunklen Gestein, das unsere Tieftauchgänge noch unheimlicher macht. Interessant ist die Beobachtung, dass nach einem Vulkanausbruch, dessen Lavastrom selbst in großen Tiefen jede Spur von Leben ausgelöscht hat, dieses Leben nach einer gewissen Zeit wieder einsetzt. Selbst auf neu gebildetem Vulkangestein mit sehr glatten Oberflächen können sich Schwämme und Korallen ansiedeln. Sie sind wichtige Pionierorganismen, die einen neuen Lebensraum schaffen, in dem eine Vielzahl von Meerestieren Schutz und Nahrung findet.
Auf einem erstarrten Lavastrom zu tauchen vermittelt das besondere Gefühl einer echten Konfrontation mit verheerenden Episode der Vergangenheit, wenn man sieht, wie diese Formationen erneut besiedelt worden sind. Diese Tauchgänge zeugen von der Widerstandsfähigkeit und Hartnäckigkeit einer Fauna, nach einer solchen Katastrophe – die vielleicht auch Menschenleben forderte – wieder die Oberhand zu gewinnen. Diese außergewöhnlichen, aber in geologischen Maßstäben kurzen Ereignisse tragen dazu bei, unsere Ozeane zu formen und das Leben darin zu gestalten. Ein Tauchgang an einer Korallenklippe bietet einen ganz anderen, aber ebenso außergewöhnlichen Eindruck.
Das Tauchen an einer solchen Steilwand ist wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Die Zonen der Abhänge, die während des Abstiegs vor unseren Augen aufeinanderfolgen, bilden dabei die Zeitleiste.
Die heute in 100 bis 130 Metern Tiefe liegenden mesophotischen Riffe waren während des letzten Eiszeitmaximums vor etwa 20.000 Jahren meist nahe der Oberfläche liegende oder gar ganz aufgetauchte Korallenriffe.
Konnten sich gewisse Arten an den Lebensraum klammern, an den sie sich über Jahrtausende gewöhnt hatten, obwohl dieser dann mit dem langsamen Schmelzen des Eises und dem damit verbundenen Anstieg des Meeresspiegels in die lichtlose Tiefe geriet? Wie sonst lassen sich die schillernden und völlig surrealen Farben mancher Fische erklären, die in fast völliger Dunkelheit leben, wo alle Wellenlängen des sichtbaren Lichtspektrums absorbiert werden? Dabei muss man wissen, dass Wasser insofern der Erzfeind des Lichts ist, als es dieses reflektiert und absorbiert, je tiefer man abtaucht. Wir können verstehen, warum einige Tiefseearten sich in Rottöne kleiden, wie dieser Zwergdrachenkopf, der hier in 130 Metern Tiefe ruht.
Rot ist die erste Wellenlänge, die verschwindet, und zwar schon wenige Zentimeter unter der Oberfläche. Im Grunde ist es also eine ideale Tarnung, um sich vor Fressfeinden zu schützen, aber auch, um aus dem Hinterhalt zu jagen und unvorsichtige Beutetiere zu fangen, die sich zu nahe heranwagen. Aber warum gibt es andere Farben, Muster und Formen, wo die Dunkelheit vorherrscht? Der unglaubliche Flaggenflossen-Fahnenbarsch (Odontanthias sp.), eine bislang noch nie beschriebene Art, die in einer Tiefe von 140 Metern fotografiert wurde, bringt dieses Paradox auf den Punkt.
Warum Energie darauf verwenden, Farben und morphologische Besonderheiten so übertrieben darzustellen – wie dies etwa der hier in einer Tiefe von 122 Metern fotografierte Blaue Seifen- barsch (Aulacocephalus temminckii) tut, dessen Zeichnung an gewisse Sportwagen erinnert –, wenn niemand die Möglichkeit hat, sie in der ständigen Dunkelheit zu bewundern?
Könnte es sein, dass diese durch die Blitze der Kameras und die Scheinwerfer der Taucher sichtbar werdenden Farben von einem Leben zeugen, das früher näher an der Oberfläche stattfand, wo die bunten Pigmente tatsächlich eine Rolle spielten?
Bisher sind es nur persönliche Vermutungen, aber die langen Dekompressionszeiten, die nach einem Ausflug in diese dämmrige Welt obligatorisch sind, lassen uns über die seltsamen Kreaturen nachdenken, denen wir gerade begegnet sind, und darüber, warum sie immer noch bunte Abendkleider tragen, obwohl die Lichter auf der Tanzfläche längst erloschen sind. Während wir an Land lange darüber rätseln könnten, ist das in 140 Metern Tiefe nicht möglich. Die Zeit ist knapp, jede Sekunde kostbar. Wir müssen methodisch die Proben für die Wissenschaftler an der Oberfläche nehmen, und die für die Dokumentation dieser tiefen Riffe und ihrer Bewohner unerlässlichen Aufnahmen machen. Jede Aufgabe scheint eine Ewigkeit zu dauern, da die Zeit in solchen Tiefen einen anderen Wert hat als an der Oberfläche. Wir dürfen uns dort höchstens zehn bis fünfzehn Minuten aufhalten. Stellen Sie sich einen Tierfotografen vor, der nur eine Handvoll Minuten pro Tag Zeit hat, um seltene, manchmal sogar unbekannte und fast immer schwierig aufzuspürende Tiere zu verewigen, bevor er mehrere Stunden für den Heimweg benötigt. Fügt man nun noch die Einschränkung hinzu, dass man sich hier in der Tiefe mit einer schweren und sperrigen Ausrüstung bewegen muss, deren Hydrodynamik und Manövrierfähigkeit eher einem überfüllten Einkaufswagen als einem Delfin ähnelt, dann kann man sich vorstellen, wie schwierig es in voller Montur ist, so bewegliche und flinke Arten wie Fische zu verfolgen, die zudem bestens mit ihrer Umgebung vertraut sind. Und dann gibt es da noch die Besonderheiten der Unterwasserfotografie, die durch die Dunkelheit zusätzlich erschwert werden: Man muss sein Motiv finden, sich ihm so unauffällig wie möglich nähern, es fokussieren, gleichzeitig den eigenen Auftrieb kontrollieren und schließlich die Kamera auslösen, um es zu verewigen, bevor es in einer Spalte verschwindet und wir es vielleicht nie wieder zu Gesicht bekommen werden.
Die Sekunden, die bei dieser wissenschaftlichen und fotografischen Suche verstreichen, sind belastend, und oft sind wir frustriert, wenn uns eine ungewöhnliche Aufnahme entgeht. Denn jedes der Bilder, die wir aus dieser lichtarmen Zone nach Hause nehmen können, hat für den Fotografen einen besonderen Wert, welcher der Öffentlichkeit oft nicht bewusst ist.
Die kostbaren Minuten, die wir in dieser menschenfeindlichen Welt verbringen, kommen uns in Form von Dekompressionszeit teuer zu stehen: drei bis fünf Stunden, je nachdem, wie unvorsichtig wir sind. Während dieser Zeit ist es uns strengstens untersagt, aufzutauchen, denn ein Dekompressionsunfall könnte bei so anstrengenden Tauchgängen tödlich enden. Man muss also viele Stunden warten, bevor man auftauchen kann. Jedes Problem, das unter Wasser auftreten könnte, muss auch unter Wasser gelöst werden. Deshalb gehen wir so voll beladen los: etwa 80 Kilo Ausrüstung, wovon ein Großteil auf die Reserveflaschen entfällt, falls unser Kreislauftauchgerät nicht mehr richtig funktioniert. Als Schutzengel wacht das Oberflächenteam auf unserem kleinen Beiboot über uns. Diese Kollegen kommen uns entgegen, um sicherzustellen, dass während der Kompressionsstopps alles in Ordnung ist. Sie nutzen die Gelegenheit, um die nicht mehr benötigte Ausrüstung und die wertvollen Proben zu holen. Diese werden an Bord gelagert und nach der Rückkehr an Land analysiert.
Das faszinierende Schauspiel der Meeresfauna lässt uns zu Ende des Tauchgangs die Müdigkeit und die Schmerzen – im Rücken, aber auch im Kiefer wegen des langen Festhaltens des Atemmundstücks – ein wenig vergessen. Stachelmakrelen und Meeresschlangen jagen die Buntbarschschwärme, eine unauffällige kleine Krabbe hat sich in Korallen versteckt, eine Nacktschnecke ist auf der Suche nach ihrer nächsten Mahlzeit, ein Schleimfisch hat eine von einem Ringelwurm in die Korallen gegrabene Röhre als Domizil bezogen – das Leben ist überall.
Die kleinsten Winkel des Korallenriffs sind von Tieren und Pflanzen besiedelt, die sich in Jahrmillionen unaufhaltsamer Evolution angepasst haben. Die Evolution, diese oft unverstandene schöpferische Kraft, die seither unermüdlich alle Lebewesen formt, mit denen wir diesen blauen Planeten teilen, hat noch viele Geheimnisse zu bieten, um die menschliche Neugier zu befriedigen, die sie selbst geschaffen hat.
Zwischen diesen ebenso atemberaubenden wie anstrengenden Tauchgängen fanden wir sogar die Kraft und den Mut, um uns in nur wenigen Metern Tiefe ein paar nächtliche Erkundungen zu gönnen und die faszinierende Tierwelt zu beobachten, von der es nach Sonnenuntergang im dunklen Wasser wimmelt. Metallisch schimmernde Fliegende Fische, die ihre riesigen Flossen fächerförmig ausbreiten, Ringelwürmer, die sich hektisch windend durch die Wassersäule bewegen, und natürlich eine Vielzahl von Fischlarven und Wirbellosen, die an der größten täglichen Wanderung teilnehmen, die es auf der Erde gibt, beleben diese nächtlichen Tauchgänge.
Nicht zu vergessen die schwarzweiß geringelten Seeschlangen. Sie pendeln zwischen der Tiefe, wo sie vor allem Fische jagen, und der Oberfläche, wo sie wieder Luft holen, hin und her.
Was für ein Fest des Lebens. Wie könnte man sich an solchen Schauspielen, die sich unseren staunenden Augen bieten, je sattsehen? Und wie kann man den Gedanken ertragen, dass der Mensch die Ozeane plündert, die 70 % der Oberfläche unseres Planeten bedecken, und mit immer fortschrittlicheren und mächtigeren Technologien dieses vielfältige und unschuldige Leben abschlachtet? Hat der Homo sapiens vergessen, dass diese Wesen, denen er so wenig Respekt entgegenbringt, seine entfernten Verwandten sind? Wie kann man noch an die falsche Vorstellung glauben, die Meeresressourcen seien unerschöpflich und der Ozean könne die menschenverursachten Belastungen immer ohne Reaktion absorbieren? Die neueste Marotte der Wissenschaft und Wirtschaft, der Tiefseebergbau, ist ein perfektes Beispiel für dieses Denken einer überholten Zeit.
Ist es angesichts all dessen, was wir heute wissen, überhaupt noch möglich, nicht den Wunsch zu verspüren, diese großartigen Unterwasserwelten, die uns inspirieren, schützen und Leben schenken, noch stärker zu verteidigen? Denn so, wie das Leben vor ungefähr vier Milliarden Jahren in einem Urmeer entstanden ist und sich dort bis zur Entstehung der ersten Landlebewesen entwickelt hat, ist dieses Leben auch heute noch nur dank der Ozeane möglich. Sie produzieren unter anderem den Sauerstoff, den wir einatmen, und leisten uns viele andere Dienste. Ihre Zerstörung wäre unser Untergang. Das sollten wir in einer Ecke unserer überentwickelten Großhirnrinde festhalten. Wir sind zweifellos die turbulentesten und dreistesten Nachkommen dieser Ursuppe!
Wenn die Müdigkeit und die Vernunft uns schließlich zwingen, unter einem Himmel mit Millionen von Sternen aus dem Wasser zu steigen, schlafen wir auf unseren Feldbetten mit vielen Bildern im Kopf ein.
Aber eine Frage bleibt: Was hätten wir gesehen, wenn wir noch ein bisschen länger geblieben wären?
Tagsüber haben wir auch schon mal die flacheren Unterwasserabhänge noch aktiver Vulkane erkundet. Diese Landschaften sind ungeachtet der extremen Gewalt, die sich unter der ozeanischen Kruste abspielt, bezaubernd. Hier steigen die durch Risse – echte Überdruckventile – aus dem Gestein entweichenden Gase in Blasen auf. Sie sorgen für einen natürlichen Whirlpool, der eine Schwefelschicht auf der Oberfläche des schwarzen Vulkansands ablagert, als hätte eine kreative Hand einen Goldfilm darauf gestreut.
Die Blasen reißen auch organisches Material aus dem Meeresboden mit und zerstreuen es in ihrer von Fischen umschwärmten Wassersäule.
Einige Steinkorallen scheinen sich sogar mit dieser unsicheren, potenziell sauren Umgebung zu arrangieren. Vielleicht hat die Evolution sie dazu gebracht, sich an die durch menschliche Aktivitäten verursachte Versäuerung der Ozeane anzupassen?
In den 30 Tagen, die wir im Meer verbrachten, haben wir nicht weniger als 25 Tieftauchgänge absolviert, davon 23 in über 100 und 13 zwischen 120 und 140 Metern Tiefe. Jeder der drei Tiefseetaucher war während der einmonatigen Expedition zwischen drei und mehr als vier Tagen unter Wasser. Die Tauchgänge dauerten im Durchschnitt 3,5 Stunden, der Rekordtauchgang 5 Stunden und 13 Minuten! Wir brachten Tausende von Fotos, Stunden von Videoaufnahmen und etwa 60 Proben an Land, die nun sorgfältig analysiert werden müssen, insbesondere in der Hoffnung, neue Arten zu finden. Das würde zu einem besseren Schutz dieser Region mit ihrem prächtigen Meeresreichtum führen. Die Bilder werden zum ersten Mal diese tiefen Riffe mit ihrer ungeahnten Vielfalt dokumentiert haben. Mit den ausgewerteten Aufnahmen konnten die Wissenschaftler bereits mindestens hundert Fischarten identifizieren, die in der unteren mesophoben Zone (unter 70 Metern) leben, darunter zwölf, die noch nie zuvor in Indonesien beobachtet wurden, und 37, die neue Tiefenrekorde aufweisen.
Wir kehrten auch mit vielen Fragen zurück: Wie steht es um die Lebensweise und die sozialen Interaktionen des 2010 erstmals beschriebenen Randalls-Torpedobarschs (Hoplolatilus randalli)?
Diese Drückerfische haben an einem der Standorte in 70 Metern Tiefe mehrere Dutzend Nester gebaut. Wie schaffen es diese talentierten Baumeister, aus Korallenresten Nester zu bauen, die viel größer sind als sie selbst, und das in Tiefen, in denen es keine Korallen gibt? Welche Auswirkungen haben die Anker von Tauchschiffen auf diese Tiefsee-Ökosysteme, in denen die Organismen wahrscheinlich langsamer wachsen als in Oberflächennähe? Wie wird sich der Klimawandel in den kommenden Jahren auf solche Lebensräume auswirken? Und welche Folgen wird er für die lokalen Gemeinschaften haben? Lauter Fragen, die eigentlich eine Fortsetzung dieser ersten Expedition erfordern!
Auch der indonesische Quastenflosser bleibt ein Rätsel. Die extrem hohe Wassertemperatur in über 100 Metern Tiefe – eine Folge der ungewöhnlichen Aktivitäten der La-Niña-Meeresströmung während dreier Jahre – hat sich zweifellos nicht zu unseren Gunsten ausgewirkt. Dazu Mark Erdmann: „Unter diesen Bedingungen können wir uns vorstellen, dass die Quastenflosser in die Tiefe gewandert sind, um die von ihnen bevorzugten Temperaturen unter 18 °C zu finden ...“ Jedenfalls sind die Lebensräume, in denen sich dieser mythische Fisch aufhalten könnte, vorhanden und laden dazu ein, unsere Suche in dieser wilden und geheimnisvollen Region fortzusetzen.