Kapitel 9
An der Spitze des französischen Süßgebäcks stehen die äußerst beliebten Macarons von Pierre Hermé.
Gibt es jeweils ein einziges, endgültiges Rezept, wenn man sich die berühmten Klassiker der Gastronomie ansieht? Nehmen wir ein allgemein bekanntes Gericht wie die Ratatouille. Soll man einfach alle Zutaten in einen Topf geben und sie köcheln lassen? Muss man die Tomaten zuerst häuten? Soll man die Peperoni braten oder schmoren? Und was ist mit dem Essig? Ratatouille-Liebhaber debattieren über jedes Detail. Ich bin der festen Überzeugung, dass es nichts Besseres gibt, als jedes Gemüse einzeln zu kochen.
Und wie steht es mit den berühmten macarons oder Makronen? Auch hier gibt es viele unterschiedliche Ansichten. An der Spitze der französischen Macaronherstellung steht der Pariser Konditor Pierre Hermé mit seinen überaus erfolgreichen Kreationen. Sein Gebäck besteht aus zwei leicht gewölbten Mandelbaiserscheiben von sublimer Leichtigkeit beidseits einer köstlichen Schicht Ganachecreme. In seinen Geschäften sind jederzeit nicht weniger als achtzehn verschiedene Geschmacksrichtungen erhältlich. Doch in Italien und sogar in einigen Gegenden Frankreichs – etwa in Saint-Émilion und Saint-Jean-de-Luz – sind Macarons einfache Mandelbiskuits, in den Vereinigten Staaten ergänzt durch Kokosnuss.
Bei einer solchen Vielfalt an Interpretationen wird die Geschichte besonders undurchsichtig. Selbst die Urheberschaft der einfachen Mandelbiskuits ist ungewiss. Laut dem Larousse Gastronomique wurden sie im Jahr 791 in der Benediktinerabtei Saint-Paul-de-Cormery in Zentralfrankreich kreiert. Da die Italiener ebenfalls ein Stück vom Kuchen haben wollten, beanspruchten sie für ihre Erfindung in Venedig ein noch früheres Datum. Betrachtet man die von Pierre Hermé angebotene Schalenvariante, so hat sie abgesehen von den gemahlenen Mandeln nichts mit diesen historischen „macarons“ zu tun. Aber hier lassen wir dieses Gebäck und seine Genealogie beiseite und konzentrieren uns auf die Geschichte der gefüllten Makronen, die ebenfalls einige Überraschungen birgt.
Da Paris heute als „Epizentrum“ der Macaronherstellung gilt, könnte man meinen, die gefüllten Makronen seien dort erstmals kreiert worden. Pierre Hermé behauptet jedoch, sie seien am historischen Hauptsitz der berühmten Konditorei Sprüngli am Paradeplatz in Zürich entstanden. Dort soll der in Luxemburg geborene Kochlehrling Camille Studer auf die Idee gekommen sein, zwei Biskuits aus Mandelbaiser mit einer Buttercreme-Ganache zu kombinieren. Ihm zu Ehren soll Sprüngli seine Kreation „Luxemburgerli“ genannt haben, ein Name, der auch heute noch gebräuchlich ist.
Die Idee von Studer und Sprüngli, zwei runde Biskuitschalen mit einer Buttercreme zu kombinieren, führte zu einer deutlichen Weiterentwicklung dieser Süßspeise. Bis dahin hatten sich Chefkoch Gerbet in Chartres und später Ladurée in Paris darauf konzentriert, ein Macaron herzustellen, das aus zwei aneinandergeklebten Mandelbaisers ohne Füllung bestand. Die Kombination mit der Ganache wurde zum Grundrezept für die Macarons, die wir heute kennen, da sie eine nie zuvor erreichte Geschmacksintensität mit sich brachte.
Während die Schweizer Luxemburgerli dank ihrer Füllung dem Macaron zu neuen Erfolgen verhalfen, brachten auch die Entwicklungen von Pierre Hermé das Genre weiter voran. Er war der Ansicht, der Geschmack der Meringueschalen sei weit weniger wichtig als jener der Ganache. Deshalb nahm er drei wichtige Verbesserungen vor: Verdoppelung der Ganache-Menge, Intensivierung ihres Geschmacks und Kreation einer weitaus größeren Palette an Geschmacksrichtungen als alles, was zuvor bekannt war. Dass man in seinen Geschäften zu jeder Zeit achtzehn verschiedene Geschmacksrichtungen von Macarons finden kann, ist jedoch nicht die ganze Geschichte. Im Jahreslauf werden nicht weniger als hundert verschiedene Sorten kreiert.
Das Macaron Infiniment Vanille von Pierre Hermé illustriert seine Philosophie besonders gut. Wer es nicht probiert hat, könnte denken, eine Vanille-Makrone sei eher gewöhnlich, ja klassisch. Schließlich war Vanille eine der ersten Geschmacksnoten, die bei der Herstellung von Macarons verwendet wurden. Das macht jedoch die Kreation von Infiniment Vanille um so beeindruckender, da der Einsatz dieses Aromastoffs – ob klassisch oder nicht – hier auf die Spitze getrieben worden ist. „Infiniment“ ist der Begriff, den Hermé für einen Geschmack von unglaublicher Intensität verwendet. Auf der Suche nach dem ultimativen Aroma stieß er an die Grenzen, die durch die Verwendung einer einzigen Vanillesorte gesetzt werden. Er überwand diese Begrenzung, indem er drei verschiedene Vanillesorten unterschiedlicher Herkunft mischte: Madagaskar, Tahiti und Mexiko. So kann er einen Grad an Vielschichtigkeit und Konzentration der Aromen erreichen, der mit einer einzigen Vanillesorte unmöglich ist. Jede der drei Sorten trägt zu einem beispiellosen Geschmack bei, und diese Kombination ist zu einem seiner Markenzeichen geworden. Die üppig aufgetragene Ganacheschicht verstärkt die Aromen zusätzlich. Sicherlich waren auch Sie schon einmal beim Reinbeißen in ein Macaron von dieser Geschmacksexplosion begeistert. Denn es ist einfach mehr als ein simples Biskuit, das man achtlos knabbert und gleichzeitig an anderes denkt – es ist ein echtes Ereignis!
In den Schokoladenmacarons von Hermé findet man das gründliche Studium der Zutaten wieder, das ihn auch zur Kreation dieser einzigartigen Vanillekombination führte. Wie bei den großen Burgunderweinen hat er auch bei der Schokolade das Konzept der Crus angewandt. Er verwendet also Schokoladen, die jeweils aus einer bestimmten Plantage eines einzigen Erzeugers stammen. Anders als bei den meisten Schokoladen, bei denen es sich um Mischungen handelt, kommen die typischen Nuancen jeder einzelnen Schokolade zur Geltung, die er in seinen Rezepten verwendet. Das beweisen etwa die Kreationen Infiniment Chocolat Porcelana (von der Pedregal-Plantage in Venezuela) und Infiniment Chocolat Chua (Venezuela). Bei diesen einzigartigen Crus besteht jedoch eine Gefahr: das Klima. Im Gegensatz zu Mischungen aus Ernten verschiedener Regionen kann man hier in Jahren mit schlechten Anbaubedingungen diesen Nachteil nicht einfach durch den Zusatz anderer Schokolade ausgleichen. Interessant ist der Kontrast zu seiner Herangehensweise bei der Vanille, bei der gerade die Mischung verschiedener Sorten dem Rezept Kraft und Charakter verleiht. Bei diesen einzigartigen Cru-Schokoladen ist es genau umgekehrt: Verwendet man nur eine einzige Sorte, kann man ihre Nuancen am besten schätzen.
MACARON INFINIMENT VANILLE
Ergibt ca. 72 Macarons oder 144 Schalen
Zusammensetzung
Vanille-Macaron-Biskuits
Vanille-Ganache
Vanille-Ganache
4 dl frischer Rahm (30% Fettgehalt)
2 Vanilleschoten aus Madagaskar
2 Vanilleschoten aus Tahiti
2 Vanilleschoten aus Mexiko
440 g weiße Schokolade (Valrhona Ivoire 35% Kakao)
Vanille-Macaron-Biskuits
1)
300 g gemahlene Mandeln
300 g Puderzucker
110 g „verflüssigtes“* Eiweiß
3 Vanilleschoten
2)
300 g Streuzucker
75 ml Mineralwasser
110 g „verflüssigtes“* Eiweiß
Mit der Klinge eines Messers die Vanilleschoten aus Madagaskar, Tahiti und Mexiko längs in zwei Hälften teilen und das Vanillemark herausschaben. Das Mark in den Rahm rühren und zum Kochen bringen. Vom Herd nehmen, abdecken und 30 Minuten ziehen lassen. Die gehackte Schokolade in einer Schüssel über einem Wasserbad schmelzen. Die Vanilleschoten einzeln aus dem Rahm entfernen und den Rahm in drei separaten Portionen über die geschmolzene Schokolade gießen. Die Ganache mit einem Stabmixer pürieren und in eine Auflaufform gießen, mit Frischhaltefolie abdecken. Etwa 12 Stunden im Kühlschrank durchkühlen lassen.
Den Puderzucker und die gemahlenen Mandeln sieben. Die restlichen drei Vanilleschoten mit Hilfe eines Messers in zwei Hälften teilen, das Mark herausschaben und zur Puderzucker-Mandel-Mischung geben. Die ersten 110 g Eiweiß, ohne zu rühren, unterheben.
Das Wasser und den Zucker auf 118 °C aufkochen. Sobald der Sirup eine Temperatur von 115 °C erreicht hat, mit dem Schlagen des restlichen Eischnees beginnen. Den auf 118 °C erhitzten Zucker über den steifen Eischnee gießen. Schlagen und auf 50 °C abkühlen lassen, bevor man ihn in die Zucker-Mandel-Eiweiß-Mischung einarbeitet, wobei man den Teig während des Mischens „faltet“. In einen Spritzbeutel mit glatter 11-mm-Tülle füllen.
NB: *„Verflüssigtes“ Eiweiß bedeutet, dass es zwei oder drei Tage bei Raumtemperatur in einer Schüssel aufbewahrt wurde.
Zubereitung und Backen
Den Teig in 3,5 cm große Rondellen spritzen und diese im Abstand von 2 cm auf die mit Backpapier ausgelegten Backbleche setzen. Die Backbleche auf die mit einem Geschirrtuch bedeckte Arbeitsfläche klopfen. Mindestens 30 Minuten lang ruhen lassen. Den Backofen auf 180 °C (Gas Stufe 6) vorheizen. Die Bleche in den Ofen schieben und 12 Minuten backen, dabei die Ofentür zweimal kurz öffnen. Nach dem Backen die Schalen auf die Arbeitsfläche geben und abkühlen lassen.
Zusammensetzen der Macarons
Die Ganache in einen Spritzbeutel mit glatter 11-mm-Tülle füllen. Die Hälfte der Macaron-Biskuitschalen mit der Rundung nach unten auf ein Blatt Backpapier oder die gekühlte Arbeitsfläche setzen. Großzügig mit Ganache garnieren. Mit den restlichen Macaron-Biskuitschalen bedecken, leicht andrücken und darauf achten, dass die Größe der Schalen übereinstimmt. Die Macarons 24 Stunden lang im Kühlschrank lagern. Zwei Stunden vor dem Servieren herausnehmen.
PIERRE HERMÉ ©
Da schon die Version Infiniment Vanille von der Vorliebe Pierre Hermés zeugt, die Aromen zu verstärken, überrascht es kaum, welche Höhen exotischere Geschmacksrichtungen erreichen. Beispiele dafür sind die Macarons Vénus (Quitte und Rose), Pomme verte und Angélique de Montagne, Huile d‘Olive à la Mandarine, Infiniment Café au Café vert et au Café (grüner und schwarzer Kaffee von der Insel La Réunion), Ispahan (Litschi, Rose und Himbeere) und Citron vert et Basilic. Die Aufmerksamkeit, die Pierre Hermé der Füllung widmet, bedeutet keineswegs, dass er die Biskuits vernachlässigt. Im Gegenteil: Er hat einen großen Teil seiner Karriere als Konditor den Nuancen und Details des Gebäcks gewidmet. Nachdem er in der Konditorei seines Vaters in Colmar im Elsass mit der Zubereitung von Petits Fours und anderem Gebäck viel Erfahrung gesammelt hatte, setzte er seine Ausbildung in Paris beim berühmten Gaston Lenôtre fort. Zu jener Zeit gehörte ein aus Marzipan, Kristallzucker und Eiweiß hergestelltes Macaron zu den Spezialitäten von Lenôtre. Im Vergleich zu den Biskuits, die heute für Macarons verwendet werden, war Lenôtres Version deutlich flacher. Die Details ihrer Produktion waren insofern ein Geschäftsgeheimnis, als bei seinem Eintritt in die Lenôtre-Küche nur zwei Mitarbeiter des Konditormeisters diese Biskuits herstellen durften. Erst als sich Pierre bewährt hatte, wurde er in dieses kleine Team aufgenommen.
Seiner Lehre bei Lenôtre folgte ein Abstecher zu Fauchon, einem weiteren Pariser Gourmet- und Feinkostunternehmen, wo Pierre Hermé zum Chefpatissier ernannt wurde. Dort lernte er einen völlig anderen Ansatz kennen, der auf gemahlenen Mandeln, Kristallzucker und geschlagenem Eiweiß basierte. Während seiner Zeit bei Fauchon wandelte Hermé das Rezept ab. Er ersetzte den Kristallzucker durch Zuckersirup, um eine Basis zu schaffen, die der italienischen Meringue glich. Gleichzeitig erweiterte er die bisher auf vier Geschmacksrichtungen beschränkte Palette erheblich, indem er Rose, Zitrone, Pistazie und Karamell mit gesalzener Butter hinzufügte. Das neue Rezept war so erfolgreich, dass die Pariser Modezeitschrift Marie Claire Fauchons Kreationen den Titel „Meilleurs Macarons de Paris“ verlieh.
Bevor Hermé selbständig wurde, machte er noch einen letzten Zwischenstopp bei einer anderen Größe der Pariser Patisserie: Ladurée. Dort perfektionierte er nicht nur die Herstellung der Macaronschalen, sondern formalisierte auch Rezept und Verfahren schriftlich, die sich die Konditormeister zuvor nur mündlich weitergegeben hatten.
In den zwei Jahrzehnten, die Pierre Hermé bei Lenôtre, Fauchon und Ladurée verbrachte, entwickelte er jedes Detail des Macaron-Rezepts weiter. Er tut dies auch heute noch in seinem eigenen Betrieb, indem er nur Zuckersirup und gemahlene Mandeln statt Kristallzucker und Marzipan verwendet. Dabei achtet er auf die kleinsten Einzelheiten, um zu verhindern, dass zu viel Luft in die Meringuebasis eingearbeitet wird. So verwendet er zwei Lagen Backpapier, um sicherzustellen, dass die Ofenluft beim Backen feucht genug ist. Diese Liebe zum Detail gilt auch für die Mandeln. Hermé besteht darauf, nur die Mandelsorte Valencia zu verwenden, und arbeitet dabei mit einem einzigen Lieferanten in Spanien zusammen, dessen Mandeln er außergewöhnlich gut findet.
Für Hermé ist das Macaron ein Fenster zu einer Welt unendlicher Kreativität. Seine Inspirationen kommen von einem Duft, einer Zutat, einem Land oder einer Begegnung, die es ihm ermöglichen, in jeder Saison neue Macaron-Kollektionen zu erfinden. Fetish, Veloutés, Adorables oder Jardins ... lauter Zutaten und neue Geschmackswelten, die er mit Vergnügen erkundet. Wie er selbst sagt, bieten seine Macarons „einige Gramm Glück“ und überraschen immer wieder mit neuen Kombinationen von Aromen und Texturen. Eine seiner einzigartigen Kreationen hat zum Beispiel eine zweifarbige Schale. Durch die Kombination von Pistazie und Schwarzkirsche mischt er die Farben und schafft so ein Macaron, das an ein Mosaik erinnert.
Natürlich stellt sich die Frage nach den salzigen Versionen. Doch obwohl einige seiner Kreationen salzige Elemente enthalten, dominiert auch hier die Süße immer, und seine Macarons werden stets süß bleiben. Hier einige Beispiele: Huile de Noisette et Asperge Verte (Haselnussöl und grüner Spargel), Au Citron Caviar (mit Zitronenkaviar), Métissé (Karotte, Orange und Zimt). Der ultimative Luxus war vielleicht das 2002 zur Lancierung der Kollektion „Blanc Cousu Main“ eingeführte Macaron Infiniment Truffe Blanche. Diese Makrone vereint zwei Signaturzutaten aus dem Piemont: weißen Trüffel und Haselnuss.
Neben seiner herausragenden Stellung in der Welt der Macarons darf man nicht vergessen, dass Pierre Hermé auch Patissier ist. In seinen Geschäften quellen die Auslagen über von Patisserie- und Schokoladespezialitäten. Dieser Anspruch, Aromen von packender Intensität zu kreieren, findet sich auch in seinen anderen Backwaren wieder. So werden für die Vanilletorte dieselben drei Vanillesorten wie für die Macarons verwendet. Und seine Torte Fetish Ispahan schmeichelt den Papillen mit ihrer Kombination aus Himbeere und Rose.
Pierre Hermé ist mittlerweile weit über Paris hinaus berühmt. Seine Läden findet man in Japan, London, Doha, Dschidda, Bangkok und Hongkong, in Fünfsternehotels mehrerer japanischer Großstädte sowie im berühmten Hotel La Mamounia in Marokko.