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Kapitel

Kapitel 10

L’Oustau de BAUMANIÈRE

Drei Michelin-Sterne und eine annähernd acht Jahrzehnte lange Geschichte haben das L’Oustau de Baumanière zu einer gefeierten Adresse in der Provence gemacht.

Autoren der Kapitel

JEFFREY S. KINGSTON

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JEFFREY S. KINGSTON
L’Oustau de BAUMANIÈRE
L’Oustau de BAUMANIÈRE
Ausgabe 23 Kapitel 10

„Lass mich dir eine Zwiebel kochen.“ Mit diesen Worten schlug Glenn Viel Jean-André Charial, dem damaligen Chefkoch des Restaurants L‘Oustau de Baumanière, vor, sein Können und seine Kreativität unter Beweis zu stellen. In der gehobenen Welt der großen Küche wird oft ein Omelett zum Test, den ein Kochkandidat bestehen muss. Aber eine einfache Zwiebel? In Wirklichkeit war diese Zwiebel gar nicht „einfach“.

Seiner Fantasie freien Lauf lassend, kreierte Viel das Rezept Oignon, topinambour, purée de pain et truffe (Zwiebel, Topinambur, püriertes Brot und Trüffel). Diese „Zwiebel“ muss eine Sensation gewesen sein, denn das darauffolgende Angebot öffnete Glenn Viel die Tür zu den Michelin-Sternen als Küchenchef eines der berühmtesten und angesehensten Restaurants in ganz Frankreich. In den fast 77 Jahren seit der Gründung durch Raymond Thuillier 1947 gab es vor Glenn Viel nur zwei Chefs im Ousteau de Baumanière: Thuillier selbst, gefolgt von seinem Enkel Jean-André Charial.

Glenn Viel bestand nur auf einer Bedingung, bevor er das Angebot von Charial annahm: Er wollte in der Küche freie Hand haben.Charials Vertrauen in seinen neuen Mitarbeiter wurde sofort bestätigt, als das Restaurant im ersten Jahr Glenn Viels seine zwei Michelin-Sterne behielt. Und Charials Urteilsvermögen wurde sogar noch mehr belohnt, als Viel 2020 den begehrten dritten Michelin-Stern zurückeroberte, der 1990 verlorengegangen war. Viels Leistung war insofern doppelt beeindruckend, als er mit dem dritten Stern den Titel des jüngsten Drei-Sterne-Kochs in Frankreich erhielt.

Viel hatte eigentlich nicht vorgehabt, Koch zu werden. Zunächst winkte vielmehr eine Karriere als Gendarm, das war allerdings nicht von langer Dauer. In den nächsten fünfzehn Jahren folgten Stationen in zwei der renommiertesten Pariser Restaurants (Le Meurice und Plaza Athenée), danach in zwei gegensätzlichen Sportorten: im Skiort Courchevel in zwei verschiedenen Sternerestaurants (für eines davon, das Kilimandjaro, eroberte er zwei Michelin-Sterne), dann ging‘s von den Alpen ans Meer mit dem Restaurant La Caravelle in Bonifacio auf Korsika.

Trotz der Freiheit, die ihm sein Status einräumte, veränderte Viel die Speisekarte nicht sofort. Vielmehr widmete er sich der Perfektionierung, wobei er die berühmten Traditionen von Charial beibehielt. Schritt für Schritt fand er zu seinem eigenen Stil.

L’Oustau de BAUMANIÈRE
L’Oustau de BAUMANIÈRE
L’Oustau de BAUMANIÈRE
Küchenchef Jean-André Charial.

Küchenchef Jean-André Charial.

Küchenchef Glenn Viel.

Küchenchef Glenn Viel.

Selbstverständlich blieb die langjährige Hingabe zu lokalen Produkten wie der Taube von Costières oder dem Olivenöl aus der Vallée des Baux ungebrochen. Er konzentrierte seine Erfindungsgabe auf einen neuen Ansatz für Saucen und Präsentationen. Ein wichtiger Bestandteil der französischen Küche sind die Saucen. Glenn Viels Saucen sind mit ihrer außergewöhnlichen Tiefe und Konzentration des Geschmacks eine Hommage an diese Tradition. In der von ihm erreichten Konzentration kommen Nuancen, Töne und Aromen zum Vorschein, die man sonst nur selten findet. Ein gutes Beispiel dafür ist seine Zubereitung der Escargots de Saint-Rémy-de-Provence „Réconfortant“. Schon die Beschreibung dieser „kräftigenden“ Schnecken nach Art des benachbarten Städtchens lässt den Zauber von Viels Kreation erahnen. Vergessen Sie den großen französischen Klassiker der in ihren Schalen mit Petersilien-Knoblauch-Butter servierten Schnecken! So zufriedenstellend dieses traditionelle Gericht auch sein mag, Viel hievt seine Schnecken auf eine ganz andere Ebene. Herzstück des Gerichts ist eine Hyperreduktion von Pilzen, die eine Geschmacksexplosion sowie ausgeprägte fleischige Textur und Persönlichkeit liefert, die an einen hochkonzentrierten Kalbsjus erinnern. Diese Noten unterstreichen den natürlichen fleischigen Charakter der Schnecken. Und da bei Schnecken ein Hauch Knoblauch nie fehlen sollte, serviert Viel sie mit einer subtilen Knoblauchemulsion.

Zwei Worte fassen weitere übergeordnete Elemente von Viels Küche zusammen: Poesie und ein Hauch Verspieltheit. Ein gutes Beispiel ist Bœuf traceur d‘un sandwich, „Souvenirpain sarrasin (Rindfleischsandwich mit Buchweizenbrot). Das saignant gebratene Fleisch von der ursprünglich schweizerischen Simmentaler Rinderrasse wird auf Salat serviert. Doch wo ist das Sandwich? Wo das dafür unerlässliche Brot? Antwort: in der Sauce! Die Rindfleischreduktion der Sauce wird mit Buchweizenbrot etwas eingedickt. Es bleibt dem Gast überlassen, dieses Geheimnis zu lüften.

Manchmal ist der Humor etwas offensichtlicher. Wird während der Trüffelsaison ein Kartoffelgratin zubereitet, liegt die Trüffel in Form eines Auges auf dem Gratin. Während der Gast die Präsentation betrachtet, blickt das „Auge“ des Gratins zurück.

Ein weiterer Beweis für Glenn Viels Vorliebe für konzentrierte Saucen und Verspieltheit ist Les couteaux, les pieds dans l‘eau. Die Schwert- oder Messermuscheln werden in ihren zu einem Zylinder zusammengebundenen Schalen präsentiert. Das „Wasser“ ist in Wirklichkeit eine Reduktion aus Venusmuscheln und Basilikum. Der Geschmack der sehr reichhaltigen, fleischigen Sauce ist höchst intensiv. Um diesen Grad an Konzentration zu erreichen, muss die Brühe 24 Stunden lang gekocht werden. Zum Gericht wird eine Pinzette gereicht, um die Muscheln aus ihren Schalen zu lösen. Auch die als Beilage servierten Chips haben etwas Verspieltes an sich: Sie erinnern in Form und Farbe an die natürliche Umgebung der Muscheln, also Sand.

L’Oustau de BAUMANIÈRE
Bœuf traceur d’un sandwich, „Souvenir” pain sarrasin.

Bœuf traceur d’un sandwich, „Souvenir” pain sarrasin.

Les couteaux, les pieds dans l’eau.

Les couteaux, les pieds dans l’eau.

Einige seiner Inspirationen findet der Koch auf dem Gelände des Hotel-Restaurants Ousteau de Baumanière. Bei dem „Gelände“ handelt es sich in vielerlei Hinsicht eher um einen Park. Das Sterne-Restaurant und das Hotel Baumanière am einen Ende des Parks, am anderen Ende das einfachere Restaurant La Cabro d’Or. Dazwischen befinden sich Villen, Springbrunnen, üppige Gärten, Formschnittbäume und -hecken, schattige Bereiche, in denen man gemütlich ruhen oder lesen kann, sowie spezielle, für Glenn Viel reservierte Zonen. Natürlich gibt es auch einen Gemüse- und Kräutergarten, der bald auf zwei Hektar erweitert werden soll, sowie einen Hühnerstall. Glücklicherweise war der Hühnerstall nie dazu gedacht, das Restaurant zu versorgen, denn seine Bewohner wurden kürzlich von Füchsen dezimiert. Zur Belustigung des Chefkochs gibt es auch ein Gehege mit Schweinen, die zum Teil mit den Resten des Restaurants gefüttert werden. Echte Drei-Sterne-Feinschmecker!

Es ist ja nicht ungewöhnlich, dass große Restaurants im Grünen einen Gemüse- und Kräutergarten haben, insbesondere in dafür so geeigneten Regionen wie der Provence. Damit nicht genug, verfügt der „Park“ von Baumanière auch noch über eine eigene Confiserie, die Schokoladenkonfekt anbietet, und eine Keramikwerkstatt. Hier stellt man nicht nur Präsentationsteller für das Restaurant her, zum Teil mit witzigen Motiven wie einer Schnecke mit ihrer Schleimspur, sondern auch eine große Auswahl für den Verkauf an die Besucher.

Eine der vielen ruhigen Ecken in den Gärten von Baumanière.

Eine der vielen ruhigen Ecken in den Gärten von Baumanière.

Der Kräuter- und Gemüsegarten.   

Der Kräuter- und Gemüsegarten.

  

L’Oustau de BAUMANIÈRE
Küchenchef Viel mit einem Teil der täglichen Ernte.

Küchenchef Viel mit einem Teil der täglichen Ernte.

Poesie und Verspieltheit mögen etliche von Viels Kreationen kennzeichnen, er bringt jedoch manchmal noch ein weiteres Element ein. Über seine höchst geschmacksintensiven Reduktionen hinaus hat Viel nämlich etwas erfunden und sogar patentiert, das er cailloux (Kieselsteine) nennt. Er konzentriert Gemüse- und Schalentierbrühen, bis sie fest werden. Auf diese Weise kann er mit einer feinen Raspel ein Gericht mit den Spänen würzen, die das Salz ersetzen. Er verwendet sie vor allem in einigen seiner Langusten- und Gemüsezubereitungen.

Wie seine Schnecken zeigen, verpasst Viel seinen Kreationen gerne Namen, die in eine Richtung weisen, aber Überraschungen aus einer anderen Richtung bieten, wenn der Teller auf den Tisch kommt. Zum Beispiel seine Ravioli. Raviole de calamars dans le ventre d‘un „calalard“, émulsion lactée aux crustacés (Kalamar-Ravioli in einem Stück Colonnata-Speck mit einer Krustentieremulsion). Seine Ravioli bestehen nicht aus Teig, sondern aus verflochtenen Tintenfischstreifen und dem weißen italienischen Speck. Das Innere birgt geräucherte Sardellen mit einem Hauch Seetang. Die dazu gereichte Emulsion dient als Sauce.

Noch mehr Überraschungen bietet sein Rouget, foie de rouget, sauce courgettes, „olives“ de mousse de foie de rouget (Rotbarbe, Barbenleber, Zucchinisauce und Rotbarben-Lebermousse-„Oliven“). Rotbarben sind ein klassisches provenzalisches und generell mediterranes Gericht, vor allem serviert mit Zucchini und Oliven. Gleichzeitig ist der Rouget ein Prüfstein für das Können einer Küche. Ungenügend gebraten ist der Fisch matschig. Bleibt er zu lange in der Pfanne oder auf dem Grill, wird sein Fleisch zu fischig.

Die Zubereitung von Viel war auf den Punkt gegart, zart und umwerfend frisch. Textur erhielt der Rouget durch einen großen, mit Rouget getränkten Chip. Die dazu gereichten „Oliven“ sahen zwar so aus, aber in Wirklichkeit bestanden sie aus einer Trompe-l’œil-Mousse aus Oliven und Rougetleber. Abgerundet wurde die Präsentation durch eine mit hochkonzentriertem Rouget-Jus getränkte Scheibe Brot.

Textur war ein Thema bei den Cèpes en strate „Tradition“, crémeux cèpes: cremig geschmorte und Streifen von rohen Steinpilzen, die für Textur sorgten, begleitet von einer dicken Emulsion aus Parmesan und Verjus. Alle drei Komponenten ergänzten sich gegenseitig. Der Kontrast der Texturen war nicht nur das Herzstück des Gerichts, die Emulsion verstärkte und vertiefte auch die Pilzessenz.

Einfachheit gepaart mit Perfektion war die Devise für Glenn Viels Carabineros au grill „Simplicité“, pulpe de fenouil à cru, feuilleté citron (Carabinero-Garnelen, gegrillt, serviert mit Fenchelpüree und Zitronen-Feuilleté). Carabineros sind relativ seltene Riesengarnelen, die im Mittelmeer an besonders tiefen Stellen vorkommen. Sie werden wegen ihrer außergewöhnlichen Größe und ihrer nach dem Kochen leuchtend roten Farbe geschätzt. Perfekt gegrillt, so dass das süße Fleisch glasig blieb, wurde die Garnele mit einer wunderbar reichen, roten Reduktion aus dem Kopfteil serviert, begleitet von einem Feuilleté mit Zitronengeschmack.

Von Innovation zeugt auch sein Saint-Pierre poché à l’eau de tomate „Simplicité“, ravioli de courgettes et romarin, pain aux algues, jus de pépins (Petersfisch pochiert in Tomatenwasser, dazu Zucchini-Rosmarin-Ravioli, Algenbrot und Saft von Tomatensamen). Petersfisch wird in der französischen Küche gerne verwendet, aber um zu brillieren, braucht sein zartes Fleisch immer etwas, das es aufwertet. Bei Viel war dieses „Etwas“ das Pochieren in Tomatenwasser, das ihm Frische, Süße und Säure verlieh. Überraschend war die Tomatensauce, eine Reduktion aus Tomatenwasser einschließlich der Kerne. Die Reduktion aus perfekten Tomaten unterstrich die natürliche Süße und Leichtigkeit dieses Safts, und die Kerne sorgten für eine faszinierende Textur. Auf einem separaten Teller wurde ein einzelner großer und halbmondförmiger Raviolo serviert. Die Ravioli mit ihrer eigenen Sauce auf Zucchini-Basis enthielten nur kurz pochierte Zucchetti (wie man sie in der Schweiz nennt), die mit Rosmarininfusion durchzogen waren. Die Zucchini werden sowohl für den Teig als auch die Füllung der Ravioli verwendet. Die Kombination von Tomatenwasser, Zucchini und Rosmarin war perfekt.

Bei einem kürzlichen Besuch war gerade Milchlamm-Zeit. Das 12 Wochen alte Lamm stammte aus Spanien. Die Tradition schreibt vor, dass man agneau de lait ohne Messer verzehrt, und die brauchte man hier wirklich nicht. Die Textur des zarten Lamms war himmlisch.

Cèpes en strate „Tradition“, crémeux cèpes.

Cèpes en strate „Tradition“, crémeux cèpes.

Rouget, foie de rouget.    

Rouget, foie de rouget.

   

Raviole de calamars dans le ventre d’un “calalard”.

Raviole de calamars dans le ventre d’un “calalard”.

Chefkoch Glenn Viel hat bewiesen, dass sich NEUE IDEEN neben einem GROSSEN ERBE behaupten können.

Die Weinkarte des Ousteau de Baumanière ist enzyklopädisch und deckt alle wichtigen französischen Weinbauregionen ab. Erfreulicherweise enthielt sie eine breite Palette provenzalischer Weine, die außerhalb ihrer Heimat nicht oft zu finden sind, darunter meine persönlichen Favoriten, die wunderbaren Rot- und Weißweine von Château Simone in Palette unweit von Aix. Der mundfüllende 2020er Weiße bot Noten von Aprikosen und weißem Pfirsich, eine reiche Textur und etwas Vanille im Finale, die perfekt zu den Fischgerichten passte.

Nicht zu vernachlässigen sind die Stützen des Essens, die Amuse-Bouches zu Beginn und die Desserts als Abschluss. Natürlich variieren die Amuse-Bouches stark je nach Saison und Marktangebot. So gab es ein Tartare de langoustines au caviar, das durch seine vorzüglichen Zutaten verblüffte: Langustinentatar mit Kaviar; Tartare de veau avec chips d’anchois (Kalbstatar in einem Sardellenchip) und Sardine fumée in Form eines leicht süßlichen, dicken Happens geräucherte Sardine auf einer Teigkruste. Die Parade dieser attraktiven Vorspeisen wurde zu Ehren von Viels Freund zusammengestellt, dem Dreisternekoch Christophe Bacquié.

Beim Dessert ist Tradition angesagt. Seit mehr als einem halben Jahrhundert strömen Heerscharen von Feinschmeckern ins Ousteau de Baumanière, um die emblematischen Crêpes soufflées au Grand Marnier zu genießen. Dieser große Klassiker vereint in gewisser Weise zwei Desserts, wobei das nach Orangen duftende Soufflé von den Crêpes umhüllt wird.

Um wirklich ein großes Finale zu sein, sollte der Hauptdessertgang von einer Kavalkade kleiner Aufmerksamkeiten umgeben sein, und hier enttäuscht das Restaurant nicht: eine Rhabarbertartelette auf einem Krüglein mit einem Rhabarber-Gurken-Getränk, das man mit einem Metallröhrchen trinkt, sowie ein Zitronen-Honig-Joghurt-Törtchen, das wieder von Viels Verspieltheit zeugt. Unter dem Törtchen befindet sich ein Milcheimerchen aus Zinn und das Törtchen selbst ist mit einem Kuhkopf aus Schokolade verziert. Für den letzten Schliff: Nougat-Bruchschokolade.

In seiner acht Jahrzehnte währenden Geschichte, zu der auch die Aufnahme in den 1954 erstmals erschienenen prestigeträchtigen Führer Relais & Châteaux gehört, hat sich das Ousteau de Baumanière den Ruf einer mythischen Adresse in der Provence erworben. Glenn Viel hat bewiesen, dass sich neue Ideen neben einem großen Erbe behaupten können.

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Crêpes soufflées.   

Crêpes soufflées.

  

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Erscheinungsdatum: September 2023

 

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