Kapitel 9
Blancpain hat einen Preis für herausragende Literatur gegründet.
„Weshalb hat Blancpain einen LITERATURPREIS lanciert?“ Vor mehr als drei Jahren fragte eine junge Journalistin: „Was hat eine Marke der Haute Horlogerie mit Literatur zu tun?“ Vielleicht war die Frage allzu direkt. Die Journalistin, die sie stellte, wirkte ein wenig verlegen, als hätte die Frage einen negativen Beigeschmack.
Ich verstand trotzdem genau, was sie anlässlich der Pressekonferenz, die kurz nach der Verleihung des ersten PRIX LITTÉRAIRE BLANCPAIN-IMAGINIST stattfand, damit ausdrücken wollte. Und damals dürften sich etliche ihrer Journalistenkollegen, die seit Jahren die Informationen über Literatur und Verlage oder die Tendenzen im Bereich Uhren und anderer Luxusprodukte verfolgten, diese Frage ebenfalls gestellt haben. Im Literaturbetrieb beziehungsweise auf die Uhrenbranche spezialisierte Journalisten trifft man selten im selben Rahmen. Das liegt daran, dass die Beziehung zwischen der Literatur und dem Luxus nie besonders klar war, zumindest nicht in China. China ist eindeutig der größte Markt für Luxusprodukte, und dieser Markt wächst auch weiterhin. So konnte man beobachten, wie die Marken dieses Segments berühmte Film- und Popmusik-Stars umwarben, um sich möglichst viel Aufmerksamkeit zu sichern. Und man konnte außerdem die Logos zahlreicher Marken auf Anzeigen für Ausstellungen zeitgenössischer Kunst sowie Tanz- und Theateraufführungen entdecken. Aber welchen Bezug kann die Literatur zum Luxus haben? Die Literatur ist so diskret, so still, dass man sich kaum vorstellen kann, auf dem Schutzumschlag eines Romans werde für eine Luxusmarke geworben. Mit der lebhaften Szene eines Popkonzerts verglichen, erinnert die Literatur eher an den einsamen und sehnsüchtig klingenden Gesang einer Nachtigall in der Nacht. Warum hat also Blancpain einen Literaturpreis ins Leben gerufen?
„Weshalb hat Blancpain einen LITERATURPREIS lanciert? Was hat eine Marke der Haute Horlogerie mit Literatur zu tun?“ Als Kulturbotschafter von Blancpain, Principal Consultant des Verlagshauses IMAGINIST und Mitgründer des Literaturpreises bin ich wohl die richtige Person, um diese Frage zu beantworten. Dennoch war ich an dem Tag, als man sie mir stellte, irgendwie sprachlos und beantwortete sie nicht mit der nötigen Unbefangenheit. Deshalb freut es mich sehr, hier erklären zu können, warum mir in jenem Moment mein Lieblingsautor Marcel Proust in den Sinn kam.
Der Preis Blancpain-Imaginist ist der erste chinesische Literaturpreis, der die Welt der Kultur mit jener der Uhrmacherei verbindet. Der 2018 gegründete Preis Blancpain-Imaginist soll junge, talentierte und vielversprechende Autorinnen und Autoren entdecken und unterstützen sowie generell die Kreativität der chinesischen Literatur fördern.
Wer seinen Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit noch nie aufmerksam und vollständig gelesen hat, erinnert sich bei der Erwähnung seines Namens wahrscheinlich nur an ein melancholisches und kontemplatives Antlitz. Abgesehen von seiner kränklichen Natur (seine Atembeschwerden heilten nie aus), zeugte seine ungesunde bleiche Haut davon, dass er die meiste Zeit seines Lebens nachts in einem schallgedämpften Zimmer wach blieb und schrieb. Er hatte ein beträchtliches Vermögen geerbt, verfügte über einen überaus raffinierten Geschmack und eine gute Ausbildung. In seiner Jugend besuchte er zudem die besten literarischen Salons. Dann schien er nicht mehr zu dieser Welt zu gehören oder wenigstens nicht mehr mit ihr Schritt halten zu können. Nehmen wir als Beispiel den Erinnerungseffekt der Madeleine, der allen Proust-Lesern vertraut sein dürfte. Der Beschreibung des Augenblicks, in dem er als Kind an einem Sonntagmorgen dieses Gebäck in seinen Tee tauchte, widmete er nicht weniger als vier Seiten. Wenn Sie es gewohnt sind, das Essen herunterzuschlingen, schaffen Sie während der Lektüre dieser vier Seiten mindestens vier Madeleines. Wie ist es möglich, in unserer Zeit zu leben und immer noch derart sensibel auf die Vergangenheit zu reagieren, dass wir all unsere Sinne einsetzen, um eine vergangene Welt zu rekonstruieren und sich mit ihr auseinanderzusetzen? Dennoch steht dieses monumentale Werk mit seinen langen Sätzen und gebrochenen Handlungssträngen, seinem Bewusstsein für das Vergehen der Zeit und seinem künstlerischen Tiefgang, das ihn fast sein ganzes Leben beschäftigte, in ständigem Gegensatz zum heutigen überstürzten Tempo. Wenn wir das Buch heute lesen, ist es, als hätten wir einen anderen Raum mit anderen Zeitabläufen betreten, und wenn wir es zuklappen und in die reale Welt zurückkehren, können die meisten von uns kaum den Unterschied zwischen schnell und langsam erklären und nicht erkennen, dass eine Sekunde manchmal länger ist als ein ganzer Tag.
Proust, der allgemein als autistisch und introvertiert gilt, wäre nicht in der Lage gewesen, das historische Panorama eines Werks wie Tolstois Krieg und Frieden zu schreiben. Dennoch könnte wohl niemand, der den dritten Band von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gelesen hat, die dort beschriebenen sozialen Beobachtungen vergessen. Die Dreyfus-Affäre, welche Frankreich umtrieb, ist ein gutes Beispiel dafür, wie Proust die menschliche Gesellschaft analysiert. In Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre kommen einem unwillkürlich die Verbrechen des Antisemitismus, die Geburt des modernen Intellektuellen sowie J’accuse von Émile Zola in den Sinn. Es mag erstaunen, wie tief Proust als junger Mann an dieser Auseinandersetzung beteiligt war. Er engagierte sich in der Bürgerrechtsbewegung, schrieb Manifeste und setzte sich während des Prozesses mit Leib und Seele für Zola ein. Jahre später betrachtete er allerdings in seinen Romanen die verschiedenen Personen der beiden Lager mit kühlem Blick, als er ihre verborgenen Motivationen, die Gründe ihrer Ansichten und ihrer seltsam ändernden Stellungnahmen beleuchtete. Noch wichtiger ist, er zeigt uns, wie die fundamentalen Werte und die ideologischen Standpunkte einer Familie, eines Freundeskreises durch ein politisches und gesellschaftliches Ereignis offengelegt werden, wie sie fast unwiderruflich zu einem enormen Bruch führen und die zwischenmenschlichen Beziehungen verändern.
Mit anderen Worten: Proust, der allgemein als mondän betrachtet wurde, widmete beinah ein ganzes Buch dem Dokumentieren der bedeutendsten Ereignisse seiner Epoche. Was jedoch den Wert der Literatur ausmacht, was große Romane und letztlich auch Proust auszeichnet, ist die Art, wie er alles in einer Weise aufzeichnete, die in keinem Fall eine direktere Form von Journalismus, sondern eine vollständige Rekonstruktion war. Die detaillierte und tiefgründige Struktur des Romans vermittelt uns nicht nur ein deutliches Bild Frankreichs zu Ende des 19. Jahrhunderts, sie ermöglicht uns auch, unsere heutige Zeit zu verstehen. Darum empfehle ich allen, die sich eine klare Vorstellung verschaffen wollen, was in den letzten Jahren auf der Welt geschehen ist, wieso sich Freunde voneinander abgewandt oder sogar die Bande zwischen Vater und Sohn zerbrochen sind, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder wenigstens den dritten Band dieses Romans aufmerksam zu lesen.
Also: „Weshalb hat Blancpain einen LITERATURPREIS lanciert? Was hat eine Marke der Haute Horlogerie mit Literatur zu tun?“ Ich habe mich offensichtlich mitreißen lassen. Aber warum habe ich auf diese Frage hin an Proust gedacht? Weil ich in seinem Fall einen Bezug zwischen der Literatur und der Zeit erkenne. Der Schriftsteller lebte nicht isoliert, seine Laufbahn und seine Erfahrungen beeinflussten zwangsläufig sein Schreiben, und man kann folglich nicht verhindern, in einem Roman auch mit den Zeichen der Zeit konfrontiert zu werden. Dennoch sollten wir die Biographie eines Schriftstellers nie von seinem Werk trennen, wie Proust selbst sagte, da „ein Buch das Produkt eines anderen Ichs“ ist. Ein Roman kann sich von den zeitlichen und räumlichen Zwängen befreien und sie transzendieren. Ist dies bei Auf der Suche nach der verlorenen Zeit nicht der Fall? Dieses Werk spielt Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts in Frankreich, es hat jedoch auch uns etwas zu übermitteln, die wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts leben. Es ist ein Werk über das Gedächtnis der Zeit. Und darum, in einem gewissen Sinn, ein Werk außerhalb der Zeit. Ist der Roman deshalb nicht auch mit einer Uhr vergleichbar?
Manchmal, wenn ich spätabends ruhig in meinem Büro sitze, den unermüdlich wandernden Sekundenzeiger auf der Blancpain-Uhr in meiner Hand betrachte und sein Ticken höre, erscheint mir dieser Zeitmesser als ein wahres Wunderwerk. Er zeigt ständig den Lauf der Zeit und zeichnet ihn auf, als ob er nicht selbst Teil der Zeitordnung wäre, sondern eine feste objektive Existenz außerhalb von Zeit und Geschichte genösse. Dennoch ist er eindeutig ein Produkt der Zeit. Die Uhren verschiedener Epochen zeugen von unterschiedlichen Technologien und Stilen. Bei einer antiken Uhr können wir Merkmale ihrer Zeit entdecken und uns sogar vorstellen, wie der Handwerker, der sie montierte, dabei den Atem anhielt. Ich bin verblüfft, dass meine Blancpain als authentische Uhr des gehobenen Segments weiterhin mit mir spricht, mir Augenblicke meiner Zeit verrät und mich sogar an meine Zukunft erinnert. Sie stammt aus einer bestimmten historischen Epoche, befindet sich jedoch irgendwie außerhalb dieser Zeit. Die Uhr existiert gleichermaßen in der Zeit und außerhalb der Zeit, am Schnittpunkt von Ewigkeit und Gegenwart.
So habe ich die Frage der Journalistin gewiss nicht beantwortet. Hätte ich es auf diese Weise getan, frage ich mich, wie viele Menschen wohl diesen ungewöhnlichen Vergleich von Blancpain mit Proust verstanden und geschätzt hätten? Wir sind heute nicht mehr so geduldig. Schließlich leben wir in einer Epoche, in der uns ein zweiminütiges Video im Internet ewig zu dauern scheint. Das erinnert mich an die achtziger Jahre, kurz nach der Reformund Öffnungspolitik Chinas, als dort das Fernsehen erst populär wurde und Lesen noch eine wichtige Freizeitbeschäftigung war. Zu jener Zeit verkaufte sich Das Sein und das Nichts von Jean-Paul Sartre zu Hunderttausenden von Exemplaren, ungefähr ebenso gut wie die beliebtesten Science-Fiction-Romane heute. Damals tauchten in China einige couragierte und fantasievolle Autoren auf, Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Mo Yan, erster Nobelpreisträger der chinesischen Literatur, Yu Hua, Su Tong, Xi Chuan, Bei Dao, Can Xue, Ge Fei, A Lai, Wang Anyi, Yan Lianke und viele andere ... Noch heute bestimmen diese Autoren die chinesische Literaturlandschaft und sind Literaturfreunden der ganzen Welt bekannt. Sie alle haben im Lauf dieses Jahrzehnts nicht nur eine hohe Reputation genossen, sondern auch viele Leser gefunden. Wenn man heute in irgendeiner Stadt Chinas jemanden auf der Straße fragt, wie viele zeitgenössische Schriftsteller er oder sie kenne, wären die oben genannten Berühmtheiten wohl dabei.
Aber worauf will ich hinaus? Selbstverständlich gibt es noch heute Menschen, die ernsthaft schreiben, und ebenfalls Menschen, die aufmerksam lesen. Es gibt sogar mehrere Autoren, die jünger sind als jene der oben erwähnten Generation, die mit profundem literarischem Können und neuen Stilrichtungen der Qualität ihrer Vorgänger nicht nachstehen. Doch, wie gesagt, die Zeiten haben sich geändert, und die Reputation eines seriösen Romanciers ist nicht vergleichbar mit jener einer Berühmtheit im Internet, die jeden Tag ihr Abendessen in sozialen Netzwerken zur Schau stellt. Wenn jemand auf der literarischen Kreation beharrt, muss er akzeptieren lernen, dass er weder großen Beifall noch riesige Tantiemen erwarten kann. Egal, wie gut jemand schreibt, er hat kaum eine Chance, ein vergleichbares Renommee oder Einkommen wie seine Vorgänger zu erreichen. Aber um ehrlich zu sein, bevorzuge ich die heutige Situation. Denn nur wenn die seriöse Literatur links liegengelassen wird, kann eine Person beweisen, dass sie dennoch bereit ist, sich dem Schreiben zu widmen, unabhängig vom Ergebnis oder der eigenen Zukunft – es ist eine Art geliebtes Schicksal, Schriftsteller zu sein. Zweifellos gaben viele junge Autorinnen und Autoren auf und endeten als Amateure, die nur noch davon träumten, einmal Schriftsteller zu werden. Sie konnten der Versuchung nicht widerstehen, da ihnen der Glaube an die Verwirklichung ihres Traums fehlte. Sie hatten nicht die Beharrlichkeit von Proust, der auf seinem Spitalbett bis zum letzten Atemzug ein Manu- skript bearbeitete. Ich verdenke ihnen das überhaupt nicht, da viele Menschen glaubten, der nächste Proust zu werden, und dafür alles opferten, um letztlich in einem Stapel alter Bücher zu entschwinden, in
die niemals jemand mehr einen Blick werfen wird.
Warum also sollten wir einen Literaturpreis stiften? Es wäre übertrieben zu sagen, wir seien auf der Suche nach dem nächsten Proust. Der Grund, weshalb wir die Altersgrenze der Teilnahme auf 45 Jahre begrenzt haben, gründet auf der Möglichkeit, auch weiterhin zu schreiben. Wir möchten diesen Autorinnen und Autoren, die ihrer Berufung folgen, zu verstehen geben, dass sie sich nicht allein fühlen müssen, sondern beachtet und verstanden werden. Es ist wie bei einem Marathonläufer, wenn während des Rennens jemand applaudierend am Straßenrand steht und ihm ein Glas Wasser reicht. Wie es dann weitergeht, wer weiß? Vielleicht kann jemand, nachdem er diese Zwischenstation passiert hat, die Fackel der früheren Generation übernehmen und die heutige Epoche in seinen Werken beschreiben, genau wie Bernstein nach tausend Jahren das schimmernde Licht der Sonne einer längst vergangenen Welt reflektiert. Gehe ich zu weit, wenn ich tausend Jahre sage? Vergessen wir die lange Tradition der chinesischen Literatur nicht. Seit dem Buch der Lieder mit den Gedichten Chinas sind dreitausend Jahre vergangen. Der Mann, der den ersten Vers gesungen hatte, dachte wahrscheinlich nicht, wir könnten heute in seinen Worten unsere eigenen Gedanken finden. Ebenso wie Proust wohl nicht erwartete, dass wir durch seine Romane die Welt des 21. Jahrhunderts verstehen lernen. Wenn Sie die Zeitmesser von Blancpain schätzen, wissen Sie, was ich damit sagen will. Als Jehan-Jacques Blancpain die Marke vor beinahe 300 Jahren gründete, ahnte er wohl kaum, was er der Nachwelt hinterlassen würde. Wusste jede Generation, die seither den Wandel und Fortschritt erlebte, was davon bleiben wird? Weshalb produziert Blancpain ausschließlich mechanische Uhren? Warum nicht einen einfacheren, günstigeren Weg wählen? Vermutlich gleicht die Marke den Schriftstellern aller Generationen, die die Literatur ernst nehmen, den anspruchsvollen Geschmack verteidigen und ihre Passion zum Schicksal machen. Sie fürchten sich nicht vor der Einsamkeit und sind stets diskret und entschlossen.
„Weshalb hat Blancpain den LITERATURPREIS BLANCPAIN-IMAGINIST lanciert? Was hat eine Marke der Haute Horlogerie mit Literatur zu tun?“ Falls es nur einen einzigen Satz als Antwort auf diese Fragen gäbe, würde ich sagen, es handle sich um den Gruß einer dreihundertjährigen Tradition an eine Tradition von drei Jahrtausenden. Eine erkennt sich in der anderen, sie sind an die Zeit gebunden und dennoch zeitlos.