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Kapitel 6

Planet MITTELMEER

Die Suche nach intakten Lebensräumen an der meistfrequentierten Küste des Planeten.

Autoren der Kapitel

LAURENT BALLESTA

Autoren der Kapitel

LAURENT BALLESTA
Planet MITTELMEER
Planet MITTELMEER
Ausgabe 21 Kapitel 6

Geburtsort meiner Passion für die Unterwasserwelt war die Mittelmeerküste. Bekannt für ihre Schönheit und Vielfalt, ist sie wahrscheinlich die am stärksten frequentierte Küste des Planeten: mit allzu lange andauernder zügelloser Überbauung, überbordender Frequentation im Sommer und der Einleitung von Industrieabwässern … All diese Belastungen haben seit einem Jahrhundert stetig zugenommen. Darunter haben, abgesehen von Reservatszonen, die ersten 50 Meter des Litorals unweigerlich gelitten. Doch ist es möglich, weiter draußen erhaltene Unterwasserwelten zu finden? Ja, ich habe sie gesehen, während zehn, zwanzig oder an einem guten Tag vielleicht 30 Minuten! Aber für diese paar Minuten in der Tiefe harrt man jeweils vier bis sechs Stunden in den Dekompressionsstufen aus, bevor es ans Auftauchen geht, und es gibt keine andere Wahl.

Seit zwanzig Jahren beobachte ich die Tiefen des Mittelmeers … oft mit großen Emotionen, aber zu kurzen Tauchgängen verbunden ... Deshalb fotografiere ich dabei auch, damit die Freude nach diesen wenigen Minuten Tauchgang anhält. Minuten, die wir im Sommer 2019 in Stunden verwandeln sollten … Damals habe ich mir diese Reise ausgedacht: einen Dauertauchgang von 28 Tagen entlang der französischen Mittelmeerküste. Möglich ist das nur, wenn Berufstaucher mit Druckanzügen oder Tauchglocken und Taucher mit leichterer Ausrüstung zusammenarbeiten. Die Autonomie der einen und die Mobilität der andern, um Aquanauten oder Ozeanauten zu werden, wie Kapitän Cousteau gerne sagte.

1. Juli 2019. Als sich die schwere Metalltür hinter uns vier Tauchern in roten Anzügen schließt, habe ich das Gefühl, mich an Bord einer Mondfähre zu befinden. Tatsächlich steuern wir auf eine Welt zu, die noch unbekannter ist als die kartierte Oberfläche unseres Satelliten: die Tiefen des französischen Mittelmeers zwischen 70 und 140 Metern unter der Wasseroberfläche. In unserer schwimmenden Druckkabine mit fünf Quadratmetern Fläche sind wir freiwillige Gefangene, Yanick, Thibault, Antonin und ich. Drinnen wird gegessen und geruht. Wir können nicht entkommen, außer bei unseren Tauchgängen. Jeden Tag, manchmal sogar zweimal am Tag, ziehen wir uns in dem winzigen Bad um und rutschen in den Turm, der uns in die Tiefe führt. Unter dem Turm, in einem vom Oberflächenteam vorbereiteten und geprüften Korb, wartet unsere Ausrüstung auf uns. Jeder Taucher hat also seinen eigenen Helfer, zu dem er absolutes Vertrauen haben muss. Denn das ist, als springe man mit einem Fallschirm, den man nicht selbst gepackt hat.

Thibault, der mir unter Wasser assistiert, könnte zu niemandem mehr Vertrauen haben als zu seiner Frau Justine, die ebenfalls Tauchlehrerin ist. Yanick musste auch nicht weit suchen: Sein großer Bruder Cédric kümmert sich um seinen Apparat. Die beiden sind unzertrennlich bei den großen Einsätzen, wenn Yanick unter extremen Bedingungen filmt. Antonin assistiert Yanick nicht nur bei der Beleuchtung, sondern kümmert sich auch um die Tauchwissenschaft. Er braucht zwei Helfer: Florian, der für die Logistik und die Wissenschaft zuständig ist, und Thomas, Antonins Freund und Komplize bei allen Forschungsmissionen rund um die Welt. Und ich bin nach Spanien gefahren, um Jordi zu holen. Er ist ein ausgezeichneter Unterwasserfotograf, der sich gut mit der Rebreather-Technik auskennt. Aber vor allem wird er sich um meine fünf Kameras kümmern.

Vertrauensvoll legen wir unsere Kreislauftauchgeräte an und verlassen den Turm ohne Schlauch, im Gegensatz zu den schweren Skaphandertauchern. Am Ende des Tauchgangs kehren wir zum Turm zurück, worauf er uns an die Oberfläche bringt und an der Station andockt, damit wir dort essen und uns vor dem nächsten Tauchgang ausruhen können. So entfällt die zeitraubende Dekompression zwischen den Tauchgängen. Am Ende der Mission dauert es jedoch fast fünf Tage, bis wir in der Station dekomprimiert haben und endlich die schwere Metalltür öffnen können, um ins Freie zu gelangen.

Der Turm löst sich von der Tauchstation und bringt die Aquanauten in die Tiefe (Foto: Jordi Chias).

Der Turm löst sich von der Tauchstation und bringt die Aquanauten in die Tiefe (Foto: Jordi Chias).

Die Aquanauten und ihr Turm, Phare de la Cassidaigne, Cassis, –70 m.

Die Aquanauten und ihr Turm, Phare de la Cassidaigne, Cassis, –70 m.

Unter dem Turm befindet sich ein Korb, dem die Taucher die VON IHREN HELFERN AN DER OBERFLÄCHE gut vorbereiteten Kreislaufgeräte, Scooter und wissenschaftliche Ausrüstung entnehmen können.

Der Planet Mittelmeer nähert sich. Entriegeln der Drucktür, Ausflug aus dem Gefährt, Exploration. Auch wenn’s fast so tönt, ist dies keine Reise in den Weltraum: Hier unten ist überall Leben.

Planet MITTELMEER
Planet MITTELMEER
Die Kuppel der Hornkiesel-schwämme (Familie Aplysinidae), Rade d’Agay, –90 m.

Die Kuppel der Hornkiesel-schwämme (Familie Aplysinidae), Rade d’Agay, –90 m.

Vom ersten Tauchgang an ist es ein unglaubliches Gefühl: Wir sind keine Taucher mehr, die sich rückwärts ins Wasser fallen lassen, sondern Aquanauten, die ihre Tiefseekapsel verlassen. Ich schaue zurück auf den Turm, der im Blau verschwindet, als wir uns entfernen. Vorerst behalten wir ihn im Auge, da er unser einziger Ausweg ist. Ich bewege mich langsam, habe es mit nichts mehr eilig, achte auf alles …

Von dieser Insel im Calanques-Nationalpark brachte Kommandant Cousteau in den 1950er Jahren die Unterwasserbilder von Die schweigende Welt zurück, einem Film, der eine ganze Generation faszinieren sollte. Eine historische Kulisse für unser modernes Abenteuer. Diese neue Gombessa-Expedition hat drei Ziele: Unsere taucherische Herausforderung: Dank den Kreislaufgeräten, die aus der ausgeatmeten Luft metabolisierten Sauerstoff zurückgewinnen, kann man stundenlang in der Tiefe bleiben, und unser Tauchgang wird dank der Kapselstation 28 Tage dauern. Die wissenschaftliche Studie: Die Station ist nicht allein. Über ihr schwimmt der Zembra, der Katamaran der Firma Andromède Océanologie, die auf Meeresökologie spezialisiert ist. An Bord überwacht Julie Deter, die für das wissenschaftliche Programm dieser neuen Gombessa-Mission verantwortlich ist, die von der Agence de l’eau (Wasserbehörde) und dem Centre Scientifique von Monaco in Auftrag gegebenen Studien. Die Protokolle sind zahlreich: Sie umfassen Themen wie die Umwelt-DNA, Bioakustik, Fotogrammetrie und die metabolische Bilanz der Atmung und der Photosynthese der benthonischen Kalkalgen. Das Versprechen noch nie dagewesener Bilder seltener Arten und ihres Verhaltens, die zum Teil erstmals in ihrer natürlichen Umgebung aufgenommen wurden.

Wir haben gerade drei Stunden in 70 Metern Tiefe verbracht. Der Turm der Tauchkapsel ist nicht allzu weit entfernt. Das ist beruhigend für diesen ersten Einsatz, der schon mit Bildern des Flammen- oder Europäischen Kalmars (Loligo forbesii) belohnt wird. Da sich diese Tintenfische gut zu tarnen wissen, war ich ihnen unter Wasser bisher nur einmal begegnet, vor zehn Jahren.

Heute ist das anders. Sie paaren sich vor unseren Augen! Das Männchen schiebt sich unter das Weibchen, ihre Tentakel verflechten sich … Dann überträgt das Männchen sein Samenpaket über einen besonderen Arm, den Hectocotylus, in die Mantelhöhle des Weibchens. Unmittelbar nach der Paarung ziehen sich die Weibchen in kleine Höhlen zurück, wo sie ihre befruchteten Eier in gallertartigen Schläuchen an die Decke hängen. Sie pflanzen sich nur einmal in ihrem Leben im Alter von einem, manchmal drei Jahren fort. Ein kurzes Leben und nur eine Gelegenheit, Leben zu geben, kurz bevor man es verliert.

Der erste Tag. Das erste noch nie dagewesene Foto. Ich möchte es als Omen betrachten. Wir haben noch 28 Tage Zeit vor uns. Können wir noch ebenso viele nie dagewesene Begegnungen erwarten?

Die Fortpflanzung des Flammen- oder Europäischen Kalmars (Loligo forbesii), Riou-Archipel, Parc national des Calanques, –68 m.

Die Fortpflanzung des Flammen- oder Europäischen Kalmars (Loligo forbesii), Riou-Archipel, Parc national des Calanques, –68 m.

Wir atmen ein Gasgemisch aus 97 % Helium und 3 % Sauerstoff, das in unsere Lungen eindringt und UNS VON INNEN ZEHNMAL SCHNELLER ABKÜHLT ALS LUFT.

Wir sind wieder im Turm und frieren. Wir atmen ein Gasgemisch aus 97 % Helium und 3 % Sauerstoff, das in unsere Lungen eindringt und uns von innen zehnmal schneller abkühlt als Luft. Obwohl die Wassertemperatur in 100 Metern Tiefe konstant 14 Grad Celsius beträgt, ist uns kälter als in der Antarktis. Aber dieser präzise Cocktail ist notwendig, um epileptische Krämpfe und eine Narkose zu vermeiden, die durch den Stickstoff- und übermäßigen Sauerstoffgehalt der Luft beim Atmen in großen Tiefen hervorgerufen werden. Helium beeinflusst unsere Stimmbänder, so dass wir uns kaum verstehen. Um innerhalb der Station und mit dem Oberflächenteam zu kommunizieren, verwenden wir Mikrofone und ein System, das unsere Stimmlage auf normal oder nahe daran korrigiert.

Ein Schlepper zieht unsere Tauchstation langsam zum nächsten Tauchplatz. Von Marseille bis Monaco und zurück werden es 21 Standorte sein. Dies entspricht 600 Kilometern Küstenlinie. Wir haben Orte entdeckt, die durch ihre Schönheit und ihren Reichtum an Leben bemerkenswert sind, und konzentrieren uns besonders auf diese „Korallenriffe des Mittelmeers“, wie ich sie nenne.

Die Aquanauten im Turm der Tauchstation.

Die Aquanauten im Turm der Tauchstation.

Diese Strukturen sehen zwar aus wie Korallenriffe in warmen Meeren, sind aber keine! Es handelt sich um sogenannte „crustose Corallinaceen“ wie Lithophyllum im Litoral und Sublitoral des Mittelmeers. Diese besonderen Ökosysteme wachsen weit von der Oberfläche entfernt, zwischen 70 und 120 Metern Tiefe, und sind damit für die Augen der Badelustigen an der Côte d’Azur unsichtbar. Der Ursprung dieser Oasen des Lebens ist das Leben selbst! Denn diese Felsen werden von lebenden Organismen gemacht … von Baumeistern! Das Fundament wird von Purpursteinalgen gelegt. Dann kommen Tiere zu Hilfe: Meereswürmer, Kalkschwämme, Korallen, Mollusken … ein Heer von Arbeitern, die übereinander aufbauen. Die einen bauen, die anderen reißen ab. Die Rotalgen bilden Gestein, die Säureschwämme knabbern es an. Unzählige wetteifern auf beiden Seiten: Die einen graben, die andern bauen auf, die einen lösen den Kalk auf, die andern zementieren neu. Dieses ausgeglichene Kräfteverhältnis ist ein Glücksfall, denn hätten die Erbauer keinen Gegenspieler, wäre das Riff wie eine Steinmauer, monolithisch, glatt, ohne Reliefs und Brüche. Kein Fisch fände dort Zuflucht, keine Krebse könnten sich dort verstecken, keine Gorgonien, Hornkorallen oder Seefächer würden dort aufragen. Diese Vielfalt sorgt für eine unglaubliche Artenfülle, sie ist der Triumph der Verschiedenartigkeit über die Einförmigkeit. Heute leben mehr als 1600 Arten in diesen korallenartigen Riffen, die im tiefen Mittelmeer einzigartig sind. Unter ihnen ist der farbenprächtige Mittelmeer-Fahnenbarsch besonders häufig. Diese Fülle verhindert, dass man das Seltene, das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen sieht. Ich habe jahrelang darauf gewartet, endlich diesen Verwandten des Gemeinen Fahnenbarschs zu sehen. Die Unterschiede sind sowohl subtil als auch offensichtlich: schlankerer Körper, größere Augen, deutlich zweifarbiges Schuppenkleid und eine fahnenartige Schwanzflosse. Der Fisch ist vor meinen Augen und wird jetzt zum ersten Mal lebendig fotografiert. Das reicht, damit mir klar wird, dass dies alles nicht umsonst ist.

Der Wohnraum der Tauchstation:
5 Quadratmeter zum gemeinsamen Essen, Warten und Schlafen.

Der Wohnraum der Tauchstation:
5 Quadratmeter zum gemeinsamen Essen, Warten und Schlafen.

Planet MITTELMEER

Die Tauchstation verlangsamt ihre Fahrt. Das Modul klinkt sich aus, und DIE SCHWERKRAFT ZIEHT DIE VIER AQUANAUTEN 120 METER TIEFER. Der Planet Mittelmeer nähert sich.

Die Tauchstation verlangsamt ihre Fahrt. Das Modul klinkt sich aus, und die Schwerkraft zieht die vier Aquanauten 120 Meter tiefer. Der Planet Mittelmeer nähert sich. Die Tür wird entriegelt, wir rutschen durch den Turm hinaus und erkunden die Umgebung … Hier unten ist das Leben überall, dieser Raum ist nicht steril. Fremdartige Formen, bizarre Verhaltensweisen, Täuschung über die Absichten. Angesichts dieser konzentrierten Exotik weiß man nicht mehr, was träge ist und was belebt, was harmlos und was giftig. Plötzlich öffnet ein Wesen vor meinen Augen seine nicht enden wollenden Arme … Ich nehme an, dass die ersten Naturforscher bei der Entdeckung dieses Tiers wie hypnotisiert waren. Zweifellos verwirrt und unfähig, einen treffenden Namen zu finden, orientierten sie sich an der Mythologie und tauften es Gorgonen- oder Medusenhaupt (Gorgonocephalus) als Verweis auf die schöne Medusa, deren Anblick jeden versteinerte. In Wahrheit handelt es sich bei den Gorgonen um Schlangensterne, Verwandte der Seesterne. Der einzige Unterschied zu diesen ist, dass sich ihre fünf Arme immer wieder neu teilen. So sehr, dass sie zusammengerollt kaum 10 cm, aber mit ausgestreckten Armen mehr als einen Meter Durchmesser erreichen. Wie Seesterne pflanzen sie sich ohne Körperkontakt fort, indem sie ihre Gameten ausstoßen und der Strömung anvertrauen. Bei mehreren Gelegenheiten haben wir jedoch beobachtet, wie sich ihre langen Arme einander näherten … zarten Liebkosungen gleich, die bisher unerklärt geblieben sind. Doch ich bin mir sicher, dass auch im Meer die Leidenschaften ausgelebt werden, ob sanft oder brutal, dauerhaft oder mit tödlichem Ausgang.

Wir haben die Hälfte der Expedition hinter uns. Die Tauchstation geht am Fuß des Ozeanographischen Museums von Monaco vor Anker. Wenn ich durch das winzige Bullauge schaue, kann ich zwar das auf dem Felsen thronende historische Gebäude erkennen, aber kaum sehen, was um uns herum auf dem Schlepper passiert. Freiwillig eingesperrt zu sein ist eine einzigartige Erfahrung. Enges Aufeinander in der Kabine, Unermesslichkeit der Tiefen. Erstickende Hitze in der stählernen Behausung, durchdringende Kälte im eisigen Wasser. Lähmende Untätigkeit drinnen, vitale Wachsamkeit draußen. Innen geschützt, draußen auf sich gestellt. Der Aquanaut wechselt von Klaustrophobie zu Schwindel, von Hitze zu klirrender Kälte, von Müßiggang zu Überarbeitung, von Paranoia zu Ekstase, von Introspektion zu Erkundung, von Depression zu Ausgelassenheit … Zweimal am Tag, die Kontraste sind heftig, so dass man den Wechsel kaum mehr erträgt. Doch das ultimative Paradox dieser Erfahrung: der unbändige Drang, erneut zu tauchen.

Vor Villefranche-sur-Mer wassert unsere Tauchstation vor einer senkrecht abfallenden Klippe. Im Verlauf dieser Mission werden wir nicht tiefer gehen. Die nega- tive Höhe beträgt 145 Meter. Hier setzen sich die Alpen unter dem Mittelmeer fort. Die Felswände in der Tiefe entsprechen der Küste der Vergangenheit. Hier befand sich der Meeresspiegel vor 20 000 Jahren. Beim Abtauchen geht man in der Zeit zurück. Dieser Steilabfall ist einer der schwindelerregendsten im französischen Mittelmeer, mit dem Gipfel auf 50 Metern über und dem Fuß etwa 210 Meter unter der Wasseroberfläche. Auf 145 Metern gibt es kaum ein Prozent Sonnenlicht, das ist die mesophotische Zone. Doch in diesen großen Tiefen nimmt paradoxerweise die Sicht mit abnehmendem Licht zu, so dass das Fotografieren dieser großen Räume möglich wird. Plötzlich hat der Taucher die Ausblicke eines Bergsteigers, und mir wird bewusst, dass es im Meer andere Welten gibt …

Cap Canaille, Cassis, –68 m.

Cap Canaille, Cassis, –68 m.

Ein Gorgonenhaupt (Astrospartus mediterraneus), Le Grand Congloué, Parc national des Calanques, –62 m.

Ein Gorgonenhaupt (Astrospartus mediterraneus), Le Grand Congloué, Parc national des Calanques, –62 m.

Der Wald der schwarzen Korallen (Antipathella subpinnata), Banc des Blauquières, Parc national des Calanques, –78 m.

Planet MITTELMEER

Lebewesen sind hier unten rar. Als wären sie Schätze, die gehoben werden müssen. Die Tiere der Tiefe sind wie die Orchideen im Gebirge: attraktiv, weil unzugänglich … Es gibt Kreaturen, die man aufspüren muss, und andere, die sich von selbst nähern.

Der riesige, seltsam geformte Mondfisch durchstreift die Tiefen auf der Suche nach den Putzerfischen, die seine zerbrechliche, schuppenlose und von Parasiten heimgesuchte Haut pflegen.

Wir nähern uns einem Wald, der verschneit und von Frost überzogen wirkt. Diese weißen Bäume sind Schwarze Korallen. Ihr Kalkskelett, das zu Schmuck verarbeitet wird, ist schwarz, während ihre Haut und die Polypen, die darauf siedeln, weiß sind.

Die Schwarzen Korallen bilden also weiße Wälder, und dieses Paradox ist ein trauriges Eingeständnis. Das von Menschen, die bei der Namensgebung dem lebendigen Glanz den Verweis auf die zu Schmuck verarbeitete tote Materie vorgezogen haben. Als wir uns nähern, wird die winterliche Kälte zur Illusion, die aufhört, wenn das Brennen kommt: Die schwarze Koralle lähmt die Feuer- oder Leuchtqualle. Diese hat hier ihren Meister gefunden. Nur drei weiße Unterwasserwälder sind an der französischen Küste bekannt … alle in Tiefen zwischen 80 und 100 Metern. Einige Korallenspezialisten dachten, diese kleinen Wälder seien Ansammlungen von Tausenden von Klonen, die ein riesiges Individuum bildeten … Proben zeigten jedoch, dass Korallenpolypen zwittrig oder getrenntgeschlechtlich sind. Dies bedeutet, dass unterschiedliche Individuen geboren werden können! Das ist recht beruhigend, denn nur aus dieser sexuellen Fortpflanzung kann eine genetische Vielfalt entstehen. Die hier vorkommenden schwarzen Korallen werden durch den schnellen
Klimawandel weniger gefährdet sein…

In den „schneebedeckten“ Korallenästen leben die Einhorngarnelen (Plesionika narval). Diese rotweiß gestreiften und blau gepunkteten, bis 10 Zentimeter langen schlanken Krebstiere sind so zahlreich, dass sie die Unterwasserlandschaft prägen. Sie leben gesellig und sind dabei alle über ihre Antennen miteinander verbunden. So wird der kleinste Klick wahrgenommen, und Alarmmeldungen zirkulieren in Echtzeit von einem Ende dieses Verbands zum anderen … Einhorngarnelen haben die sozialen Netzwerke und den Hochgeschwindigkeits-Informationsfluss erfunden.

Eine Feuer- oder Leuchtqualle (Pelagia noctiluca), gefangen in den Schwarzen Korallen, Banc des Blauquières, Parc national des Calanques, –78 m.

Eine Feuer- oder Leuchtqualle (Pelagia noctiluca), gefangen in den Schwarzen Korallen, Banc des Blauquières, Parc national des Calanques, –78 m.

Mittelmeer-Fahnenbarsche (Anthias anthias), Banc des Blauquières, Parc national des Calanques, –78 m.

Mittelmeer-Fahnenbarsche (Anthias anthias), Banc des Blauquières, Parc national des Calanques, –78 m.

Ein Feld Pfauenfederwürmer (Sabella pavonina), Phare de la Cassidaigne, Cassis, –72 m.

Planet MITTELMEER

Während einer vierwöchigen Mission werde ich MEHR WISSEN, MEHR INTUITION ÜBER DIESE TIEFSEE-ÖKOSYSTEME gewinnen als in den zwanzig Jahren zuvor.

Ich hingegen habe in der Tauchstation keine Verbindung zu meiner einmonatigen Tochter, die draußen bei ihrer Mutter ist. Ich muss mich auf die Mission konzentrieren und nutze diese besondere Zeit, um die Aufnahmen zu prüfen und zu bearbeiten, die ich von unten mitbringe. Ich genieße jede Minute, die ich dort verbringe, denn die Enge in der Station ist manchmal schwer zu ertragen, besonders für Yanick. Aber ich weiß, dass wir trotz der Bedingungen extremes Glück haben, hier zu sein. Ich denke, dass ich während einer vierwöchigen Mission mehr Wissen, mehr Intuition über diese Tiefsee-Ökosysteme gewinnen werde als in den zwanzig Jahren zuvor. Gerade wegen dieser Zeit in der Tiefe, die sich verdichtet. Also ziehen wir noch einmal unsere Tauchanzüge an, bereit für einen der letzten Ausstiege, bevor wir die Dekompression beginnen.

Die Bathyale-Station ist zurück in den Gewässern von Marseille, wo viele Wracks in großer Tiefe liegen. Das Gombessa-Team besteht aus Biologen und Naturwissenschaftlern, nicht aus Archäologen, aber die Nutzung des Kreislauftauchens für andere Disziplinen scheint der nächste Schritt zu sein. Viele Archäologen würden gerne sechs Stunden auf dem 1917 gesunkenen Frachtdampfer „Natal“ oder 100 Meter unter der Wasseroberfläche auf dem Amphorenfeld in Port-Miou verbringen.

Letzter Tauchgang vor der Dekompression. Ein paar Meter entfernt von Thibault und mir sammelt Antonin die letzten Sedimente für das Wissenschaftlerteam an der Oberfläche. Durch die Analyse der Schlammproben können wir gefährliche Substanzen aus einer offiziellen Liste nachweisen, die 18 Pestizide, 16 Kohlenwasserstoffe, 17 Metalle und 41 krebserregende PCBs umfasst. Selbst in großen Tiefen hinterlässt der Mensch unsichtbare Spuren.

Da der Befischungsdruck an der Oberfläche zu stark ist, haben sich die großen Meeresbewohner in die Tiefe verzogen. Seeteufel, Meeraale, gewaltige Hummer und sogar die meist in Höhlen lauernden Muränen wandern für ihre Paarungsabende in das gedämpfte Licht dieser Tiefen hinab. Sie ziehen sich vor den Menschen zurück auf der Suche nach Räumen, wo sie vielleicht den Nachstellungen und dem Aussterben widerstehen können. Es sind die letzten Refugien all der Kreaturen, die aus der unter Druck stehenden Küste verdrängt werden. In der Wissenschaft spricht man von resilienten ökologischen Nischen. Aber kann ein Riese mit einer Nische zufrieden sein?

Ein Seeteufel oder Anglerfisch (Lophius piscatorius).

Ein Seeteufel oder Anglerfisch (Lophius piscatorius).

Durchsichtige Partnergarnele (Periclimenes scriptus) in Mittelmeer-Seefinger-Lederkorallen (Alcyonium acaule), Parc national de Port-Cros, –65 m.

Durchsichtige Partnergarnele (Periclimenes scriptus) in Mittelmeer-Seefinger-Lederkorallen (Alcyonium acaule), Parc national de Port-Cros, –65 m.

Mondfisch (Mola mola), Cap Taillat, Ramatuelle, –130 m.

Mondfisch (Mola mola), Cap Taillat, Ramatuelle, –130 m.

Eine Metallige Meerassel (Idotea metallica) bei der Häutung, Sausset-les-Pins, –6 m.

Eine Metallige Meerassel (Idotea metallica) bei der Häutung, Sausset-les-Pins, –6 m.

Das Mittelmeer ist nicht tot. DOCH WAS BEHÄLT UNS DIE ZUKUNFT VOR?

Während der Turm der Tauchstation ein letztes Mal vom Meeresboden abhebt, denke ich über die vergangenen vier Wochen nach. Das Mittelmeer wirkt manchenorts wie eine Oase in der Wüste, an andern wie ein riesiger, üppiger Wald, aber tot ist es nicht. Was behält uns die Zukunft vor? Der Mittelmeerraum war die Wiege unserer Zivilisationen, Schauplatz von Kriegen, Inspirationsquelle der Dichter. Sein Meer ist zum Mülleimer unserer Gesellschaften geworden, zum Swimmingpool der Ferien und Grab der Emigranten auf dem Weg nach Europa. Wird es morgen das Theater unserer Tugenden sein? Das Labor für unsere nachhaltigen Ambitionen? Nichts ist unmöglich in diesem fast geschlossenen Becken, wo alles verstärkt wird, das Schlimmste und das Beste. Nur eines hat sich nicht geändert: Das Mittelmeer ist noch immer die Heimat eines vielfältigen Lebens. Sein Herz hat nicht aufgehört zu schlagen.

28. Juli 2019. Die Tür der Tauchstation öffnet sich ins Freie. 28 Tage lang hat uns diese Kapsel auf eine Reise voller Überraschungen und Wunder mitgenommen. Rustikal, altmodisch ist sie den Weg gegangen. Jede Reise hat ihr eigenes Fahrzeug. Ein Raumschiff zu den Sternen, eine Tauchstation in die großen Tiefen, die die fernen Planeten einer benachbarten Galaxie sind. 100, 120, 140 Meter unter Wasser: Distanzen, die zwar geradezu lächerlich klein, aber ohne geeignete Ausrüstung unüberwindlich sind. Dieses Universum ist weder nah noch fern, es ist anderswo. Es zu erreichen heißt in eine Parallelwelt einzutreten. Wir sind sehr weit gegangen, waren aber nicht wirklich weg. Wir blieben zu Hause, auf dem Planeten Mittelmeer.

Planet MITTELMEER
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Kapitel 07

Der NEBELPARDER

Eine künstlerische Reise durch Südostasien

Autoren der Kapitel

LEILA MANSOUR
Der NEBELPARDER
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