Kapitel 2
Sie war als erste Frau Eigentümerin und Präsidentin eines Schweizer Uhrenhauses und trotzte an der Spitze von Blancpain schwierigen Zeiten wie der Weltwirtschaftskrise, dem Zweiten Weltkrieg, dem plötzlichen Tod ihres Geschäftspartners und dem Aufkommen der Quarzuhr.
Berthe-Marie Fiechter, bekannt unter dem Namen „Betty“, begann ihre berufliche Karriere 1912, knapp zwei Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Mit bewundernswerter Haltung überstand sie diese auch für die Schweiz schwierige Zeit ebenso wie die Weltwirtschaftskrise, den Zweiten Weltkrieg, den Tod des Geschäftspartners André Léal, ihren Kampf gegen den Krebs und den Beginn der Quarzkrise, die fast zwangsläufig die Schweizer Uhrenindustrie gefährdete. Sie war eine Visionärin, die die Manufaktur Blancpain mit der Kreation bahnbrechender Uhren wie der Fifty Fathoms und der Ladybird sowie als Uhrwerkhersteller auf Erfolgskurs brachte. Sie war als erste Frau Eigentümerin und Präsidentin einer Schweizer Uhrenmarke, und dies lange bevor die Schweizer den Frauen ein halbes Jahr vor Bettys Tod das Stimm- und Wahlrecht zugestanden.
Gegründet wurde die Uhrenmanufaktur Blancpain im Dorf Villeret im Berner Jura, das während mehr als zwei Jahrhunderten auch der Produktionsstandort blieb. Besucher von Villeret, die am Nordhang durch die Rue des Planches spazieren, kommen an ihrem Denkmal vorbei. Die Büste, welche das Flusstal der Schüss (französisch Suze) überragt, ruht auf einem Sockel mit ihren Lebensdaten (1896–1971). Obwohl seit ihrem Ableben ein halbes Jahrhundert vergangen ist, bleibt sie den Älteren in Villeret unvergessen. Die Geschichte von Blancpain wäre unvollständig ohne ein Kapitel, das ihrer Laufbahn gewidmet ist.
Bettys berufliche Tätigkeit begann nicht von einer privilegierten Position aus, sie absolvierte im Gegenteil die übliche Grundausbildung mit einer Lehre. Ihre Herkunft prädestinierte sie allerdings für eine Uhrmacherkarriere. Ihr Vater, Jacob Fiechter, besaß gemeinsam mit der Familie seiner Schwester ein kleines Unternehmen für die Herstellung von Komplikationsuhrwerken, die Manufacture d’Ébauches Compliquées Eugène Rahm, gleich oberhalb der Hauptstraße, die durch Villeret führt – ein Betrieb, der 1914 von Blancpain übernommen wurde. Betty bereitete sich auf eine Laufbahn in der Uhrmacherei durch den Besuch der örtlichen Handelsschule vor, zu deren Programm eine Teilzeit-Uhrmacherlehre gehörte. Diese absolvierte sie ab 1912 in der Manufaktur Blancpain, die in Villeret bereits damals die größte Arbeitgeberin war. Das war der Anfang des halben Jahrhunderts ihres Lebens, das sie Blancpain widmete.
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete sich Betty freiwillig für die Teilzeitpflege verwundeter französischer Soldaten, die in Saint-Imier, wenige Kilometer von Villeret entfernt, hospitalisiert waren. Obwohl die Schweiz während des ganzen Kriegs neutral und von einer Invasion verschont blieb, erlaubte das Land den Kombattanten, auf seinem Boden Lazarette für ihre Verwundeten zu unterhalten, unter der Bedingung, dass diese nach ihrer Genesung nicht auf die Schlachtfelder zurückkehrten. In diesem Rahmen der Duldung durften Mitglieder der Generalstäbe in die Schweiz einreisen, um ihre Verwundeten zu behandeln. Einer dieser Besucher war der französische Adjutant André Léal. Er lernte Betty im Rahmen dieser Funktion während des Kriegs kennen und spielte später eine wichtige Rolle in ihrem Leben.
Nach den drei Lehrjahren erhielt Betty 1915 eine feste Anstellung als Assistentin von Frédéric-Émile Blancpain. Frédéric-Émile war in sechster Generation Nachfolger von Jehan-Jacques Blancpain, der das Familienunternehmen 1735 in Villeret gegründet hatte. Die Nachkommen von Jehan-Jacques verstanden es, den Betrieb geschickt durch die Zeiten technologischer, politischer und wirtschaftlicher Veränderungen zu führen. Ein Beweis ihres Erfolgs: In der Zeit bis 1900 hatten sich zwanzig verschiedene Uhrenmarken in Villeret niedergelassen, deren Zahl hatte sich bis 1915 auf drei reduziert, wobei Blancpain mit Abstand die bedeutendste blieb.
Im Verlauf ihrer ersten dreizehn Jahre bei Blancpain wurde Betty von Frédéric-Émile so gut eingearbeitet, dass sie die Leitung der Werkstätten und der gesamten Produktion in Villeret übernehmen konnte. Im Vertrauen auf ihre Fähigkeiten verlegte er seinen Wohnsitz von Villeret nach Lausanne und ließ Betty das Unternehmen ohne seine tägliche Präsenz führen. Zu dieser Zeit wohnte Betty im Obergeschoss über den Büros in einem Blancpain-Gebäude, das sich noch heute in Villeret befindet. Die Zusammenarbeit von Frédéric-Émile und Betty war ziemlich modern und avantgardistisch. Sie kommunizierten per Post, indem sie Wachsrollen hin und her schickten, auf denen sie ihre Mitteilungen mit dem Diktaphon aufzeichneten.
Frédéric-Émile verstarb 1932 unerwartet. Da seine Tochter Nellie die Leitung des Familienbetriebs nicht übernehmen wollte, war sein letzter Wille, das Unternehmen an Betty zu übertragen. Nellie schrieb ihr nach dem Tod ihres Vaters einen rührenden Brief.
„Dass Papa Villeret nicht mehr leiten konnte, machte uns wirklich traurig, aber ich kann Ihnen versichern, dass die einzige Lösung, die meine Trauer erleichtern kann, Ihre Übernahme der Manufaktur zusammen mit Monsieur Léal ist. Dank dieser glücklichen Lösung kann ich erkennen, dass die Traditionen unserer so wertvollen Vergangenheit in jeder Weise weitergeführt und geachtet werden. Sie waren für Papa eine überaus wertvolle und hochgeschätzte Mitarbeiterin. Lassen Sie mich nochmals danken für Ihre große und dauerhafte Zuneigung. Ich umarme Sie und werde Sie immer in meinem Herzen bewahren.“
André Léal, der sich mit Villeret bereits während des Kriegs vertraut gemacht hatte, kehrte als Verkäufer zu Blancpain zurück und konzentrierte sich auf die Märkte außerhalb der Schweiz. Wie in Nellies Brief erwähnt, wurde André Bettys Partner beim Erwerb des Betriebs.
Die Anfänge der Partnerschaft waren allerdings alles andere als einfach. Die beiden verloren das Recht, den Namen „Blancpain“ zu verwenden, da gemäß dem damaligen Obligationenrecht Unternehmen nur den Namen einer Familie tragen durften, wenn ein Mitglied dieser Familie am Betrieb beteiligt war. Da dies nach dem Tod von Frédéric-Émile und dem Verkauf von Blancpain nicht mehr der Fall war, war die weitere Verwendung des Firmennamens verboten. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass ein bis heute bedeutendes Genfer Uhrenhaus nach dem Tod eines Angehörigen dieses Verbot nur umgehen konnte, indem es eine Person dieses Namens ausfindig machte und einstellte, obwohl diese weder über die nötige Kompetenz noch Erfahrung im Uhrenbereich verfügte. Auf eine solch eher krumme Tour kamen Betty und André nicht, dafür benannten sie Blancpain vorläufig in „Rayville“ um, ein phonetisches Anagramm von Villeret, bis dieses Gesetz wieder aufgehoben wurde.
Der Verlust des Firmennamens „Blancpain“ war nicht die einzige Herausforderung, der sich Betty während ihres ersten Jahrzehnts an der Spitze des Unternehmens stellen musste. Diese Periode fand in der kritischsten Zeit der Weltwirtschaftskrise statt, die zahlreiche Unternehmen in der ganzen Schweiz in den Konkurs trieb. Ein dritter Tiefschlag war der Tod von André Léal, der während einer Geschäftsreise bei einem Unfall das Leben verlor.
Man kann ohne Übertreibung sagen, dass nur wenige Betriebsleiter Rückschläge, wie sie Betty Fiechter nach der Übernahme meistern musste, überstanden hätten. Ihre Stärke, Entschlossenheit und Weitsicht waren jedoch außergewöhnlich. Angesichts der schwierigen Wirtschaftslage sah sie andere Uhrenhäuser scheitern, weil sie ihre Tätigkeit wie gewohnt fortsetzen wollten. Sie entschied sich deshalb für eine andere Strategie. Statt das gesamte Angebot der Uhrentypen beizubehalten, setzte sie auf ein anderes Ziel: die Herstellung von Uhren und Uhrwerken für Frauen. Diese Spezialität erforderte ein außerordentliches Können. Uhrenfabrikanten wussten, dass es wesentlich komplizierter war, Zeitmesser mit reduzierten Dimensionen zu entwickeln und produzieren. Doch Betty kannte selbstverständlich die hervorragenden, zur Zeit von Frédéric-Émile eingeführten Produktionsverfahren der Manufaktur, schließlich beaufsichtigte sie ja die Werkstätten. Deshalb positionierte sie Blancpain als Spezialist für Damenuhren, indem sie dafür ein solides Fundament schuf und dieses Angebot erheblich erweiterte.
Betty hatte zudem ausgezeichnete Marketingideen. Sie erkannte die wachsende Dynamik des US-Markts im Vergleich zu anderen Weltregionen und konzentrierte sich hier auf die lokale Entwicklung enger Partnerschaften für den Verkauf von Damenuhren. Um die Zollgebühren für fertige Uhren zu umgehen, verkaufte sie beinahe fertiggestellte Modelle mit Werk, Zifferblatt, Zeigern sowie Innengehäuse, und überließ es den Abnehmer-Uhrenmarken, diese Blancpain-Rohwerke mit Gehäusen nach eigenem Geschmack auszustatten.
Ihr Geschäftsstil war klar und durchdacht, und sie tolerierte nicht, dass man ihr in die Quere kam. Kurzum, sie war mit ihrem energischen Wesen und ihrer körperlichen Statur eine dominante Persönlichkeit. Gleichzeitig erwies sie sich jedoch als bescheiden und hatte zu ihren Angestellten ein sehr enges Verhältnis. Sie kannte nicht nur alle, die im Betrieb arbeiteten, sondern bemühte sich auch, deren Ehepartner und Kinder kennenzulernen. Jedes Jahr machte sie allen Mitarbeitern Geschenke von beträchtlichem Wert, ob nun ein Serviertablett oder einen anderen Gegenstand aus Silber. Sie kümmerte sich in verschiedenster Weise um ihr Personal, wie dies in Unternehmen erst Jahrzehnte später üblich werden sollte, und ließ beispielsweise den Spielplatz Square Rayville erstellen, wo die Kinder in aller Sicherheit herumtollen konnten. Als wichtigste Arbeitgeberin des Dorfes Villeret wurde sie auch für die Feste und besonderen Veranstaltungen bewundert, die sie für das Personal organisierte.
Betty hatte nie geheiratet, aber sie umgab sich dennoch mit einer Sippschaft. Gegenüber den Angestellten von Blancpain entfaltete sie einen starken Familiensinn, doch noch größer war ihre Hingabe zu ihren Neffen und deren Kindern. Besonders nah stand sie ihrem Neffen Jean-Jacques Fiechter, dem Sohn ihres Bruders, des namhaften Schweizer Dichters Jacques-René Fiechter. Während des Zweiten Weltkriegs lebte Jean-Jacques mit seinen Eltern in Alexandria in Ägypten. 1945 kehrte er in die Schweiz zurück, wo er sein Geschichtsstudium an der Universität Lausanne abschließen und Professor werden wollte. Selbstverständlich wurde er während seines Studiums voll und ganz von Betty unterstützt.
Alles änderte sich 1950, als Betty an ihrem ersten Krebs erkrankte. Für sie gab es zwei Möglichkeiten: Entweder half ihr Jean-Jacques bei der Leitung von Blancpain, oder sie verkaufte das Unternehmen. Obwohl er keine besonderen Fachkenntnisse und Erfahrungen in der Uhrmacherei und Geschäftswelt hatte, wählte Jean-Jacques die erste Lösung. Daraus entwickelte sich eine annähernd zwanzig Jahre dauernde gemeinsame Unternehmensführung mit seiner Tante. Betty begleitete ihren Neffen klug und ließ ihn sämtliche Betriebsphasen von Blancpain durchlaufen: Produktion, Finanzen, Verkauf und Vertrieb. Ihre Arbeitsbeziehung war überaus erfolgreich, etwa mit der Kreation der legendären Fifty Fathoms, der Damenuhr Ladybird, der Cocktailuhr für Marilyn Monroe und der Produktionssteigerung von Blancpain auf mehr als 200 000 Uhren und Uhrwerke pro Jahr. Zahlreiche innovative und qualitativ hochwertige Zeitmesser machten diese Erfolge möglich. Ein Ergebnis ihrer Zusammenarbeit war die Entwicklung des kleinsten runden Uhrwerks der Welt (11,85 mm Durchmesser) als Motor der Ladybird. Dieses Werk war nicht nur wegen seines rekordmäßig kleinen Durchmessers bemerkenswert, hinsichtlich der Robustheit übertraf es dank einem zusätzlichen Trieb im Räderwerk auch die übrigen kleinen Damenuhrwerke. Zu dieser Zeit positionierte sich die Marke zudem als Pionierin für Damenuhren mit einer versenkten Aufzugkrone auf dem Gehäuseboden. Dadurch konnten die Designer besonders elegante Damenuhren anbieten. Die ebenfalls extrem kleinen Baguetteoder Stabuhrwerke von 7 x 18,6 mm wurden in jener Zeit eine weitere Spezialität von Blancpain. Die Geschichte der vom Sporttaucher und Blancpain Geschäftsleiter Jean-Jacques Fiechter entwickelten Fifty Fathoms, die mit ihren herausragenden Eigenschaften zum Maßstab für die moderne mechanische Taucheruhr wurde, ist in den Lettres du Brassus schon mehrmals beschrieben worden.
Jean-Jacques war nicht der einzige Fiechter, der zur Manufaktur stieß. Seine Brüder René und Georges ließen sich von ihrer Tante ebenfalls Aufgaben zuteilen. René träumte davon, sein Leben in Amerika zu verbringen, weshalb ihm Betty den Auftrag gab, diesen Markt für Blancpain zu erschließen. Dabei gelang es ihm, ein Treffen mit Allen V. Tornek zu organisieren, der zum Wiederverkäufer für Blancpain in den Vereinigten Staaten avancierte und später dazu beitrug, den Liefervertrag zwischen der US Navy und Blancpain für die Taucheruhren Fifty Fathoms MIL-SPEC abzuschließen. Georges und seine Frau wurden von Betty mit der Entwicklung der südamerikanischen Märkte betraut.
Sie schätzte jedoch nicht nur ihre Neffen und betraute sie mit wichtigen Aufgaben bei Blancpain, sondern auch deren Gattinnen und Kinder. Kurz nach der Hochzeit von René, der seine Frau bei seiner Transatlantik-Überquerung kennengelernt hatte, traf ein großer Lieferwagen voller eleganter Möbel, die seine Tante ausgewählt hatte, an ihrem neuen Zuhause ein. Diese Überraschung folgte auf den von Betty offerierten Schmuck für die Braut, weil sie der Überzeugung war, eine Frau benötige diese Zierde, um angemessen gekleidet zu sein. Bei jeder Geburt schenkte sie jedem Kind ihrer Großfamilie ein vollständiges, individuelles Tafelgeschirr mit silbernem Monogramm. Beim Erreichen der Volljährigkeit erhielt jedes Kind ein noch größeres Geschenk: eine Blancpain-Uhr. Der Sohn von René Fiechter und Dritter dieses Namens hütete Bettys Geschenk, eine außergewöhnliche ultraflache Blancpain-Cocktailuhr, ein Leben lang. Deren Gangreserve von 12 Stunden hielt Betty für ausreichend: „Weshalb sollte ein Gentleman für eine Cocktailuhr mehr benötigen?“ Noch bedeutsamer als die Geschenke war jedoch die Art, wie sie sich ihrer Erziehung widmete, eher wie eine Großmutter als eine Großtante. René der Dritte erinnert sich, oft bei wichtigen Sitzungen von Blancpain zugegen gewesen zu sein, die in Bettys Haus in Pully bei Lausanne stattfanden, das sie „En Chandré“ getauft hatte. Betty bestand darauf, dass er bei Tisch anwesend sei, und ungeachtet der wichtigen Fragen, die erörtert wurden, sah sie alles, auch seine Ellenbogen auf dem Tisch ..., was nicht geduldet wurde. Die Sitzungen in Anwesenheit der Kinder ihres Neffen waren manchmal aufregend. Bei einem der Kadertreffen entdeckte René ein geheimnisvolles Ventil im Keller von Bettys Haus. Die Versuchung, daran zu drehen, war übermächtig. Worauf ein gewaltiger Wasserstrahl aus dem Brunnen schoss, der den großen Gartenbrunnen zum Überlaufen und die Besprechung zum Stillstand brachte, weil Betty und das Führungsteam völlig durchnässt wurden.
Sie führte auch Rituale und Traditionen ein. An Weihnachten mussten alle Kinder, eins nach dem anderen, vor der versammelten Familie singen. Und es gab auch Grenzen. Ein mit Antiquitäten und seltenen Objekten bestücktes Möbel war für die Kinder tabu. Als der jüngere Bruder von René dem Dritten die Regel verletzte (glücklicherweise wurde keines der wertvollen Stücke beschädigt), ihr jedoch seine Tat gestand, belohnte sie ihn für seine Ehrlichkeit mit einem Modellsegelboot. Disziplin, gute Manieren, Tradition und Regeln waren gut und wichtig, das Vergnügen zählte jedoch auch. Wenn sie den Eindruck hatte, eine Geschäftsleitungssitzung ziehe sich in die Länge, schleppte Betty kurz entschlossen die Kinder und das ganze Management auf die Go-Kart- Piste. Dort stieg sie in ihren schönsten Kleidern und mit allem Schmuck behangen in ihren Go-Kart, ihre Mitarbeiter in Anzug und Krawatte in einer Linie in den Go-Karts dahinter. Und dann brauste sie unter den verblüfften Blicken ihres Teams und der Kinder mit fliegenden Röcken los, allerdings in die falsche Richtung. Bei einer anderen Gelegenheit, nachdem sie einige Zeit mit der Familie von Jean- Jacques in seinem Haus in Cagnes-sur- Mer an der Côte d’Azur verbracht hatte, verkündete sie, die erste Flugreise seines Sohns Jean-Marie sei längst überfällig, und nahm ihn unverzüglich mit auf einen gemeinsamen Flug von Nizza nach Genf.
Weihnachten 1968
Meine lieben Freunde
Es war einmal, hieß es in den Märchen meiner Kindheit ... Ich wiederhole diese Worte und sage: Es war einmal, im Jahr 1932, mitten in der tiefen Krise der Uhrenindustrie, eine kleine Gruppe von Freunden – von denen einige heute abend hier anwesend sind –, die Vertrauen in meinen Partner und mich hatten und die es uns durch dieses Vertrauen ermöglichten, BLANCPAIN zu kaufen und die RAYVILLE S.A. zu gründen.
Ich möchte mich bei ihnen von ganzem Herzen bedanken, wenn ich mich heute abend von ihnen verabschiede.
Sie werden sich mit mir an meinen lieben Mitarbeiter Herrn André Léal erinnern. Sie werden sich an die dunklen Tage erinnern, die wir durch unser Zusammenhalten klarer und ... endlich hell gemacht haben! Abschließend möchte ich noch einmal allen dafür danken, dass sie mir nach dem plötzlichen Ableben von Herrn Léal erneut ihr Vertrauen geschenkt haben.
Die Tage vergingen, dann die Jahre ...
Heute hat mein Neffe, Herr J.-J. Fiechter, den Wunsch geäußert, die gesamte Verantwortung für die RAYVILLE S.A. zu übernehmen. Ich bleibe Präsidentin, ein ehrenvoller und wertvoller Titel für mich, da er mir erlaubt, keinen endgültigen und unwiderruflichen Abschied von einem ganzen Leben voller Anstrengungen zu nehmen. Anstrengungen, die unbeschwert zu tragen Sie alle, ich wiederhole es, mir durch Ihr Vertrauen, Ihre Freundschaft und Ihr Verständnis ermöglichten.
Und dieses Adieu, das ich Ihnen gerne persönlich entboten hätte, was mir die Umstände aber verbieten, unterstreiche ich sehr stark mit meinen Gefühlen der Dankbarkeit, denn während meiner erzwungenen Unbeweglichkeit haben Sie mich durch Ihre Besuche, Ihre Blumen, Ihre Anrufe unterstützt und mich mit diesem wunderbaren Buch verwöhnt, das Sie mir geschenkt haben.
Man verlässt ein Werk, dem man sein ganzes Leben gewidmet hat, nicht ohne Schmerz und Tränen, aber durch meine feuchten Augen lächle ich Ihnen allen zu, jenen der Vergangenheit, jenen der Gegenwart, und wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest sowie ein sehr gutes neues Jahr und versichere Ihnen, dass die RAYVILLE unter der Ägide von Herrn J.-J. Fiechter und seinen engsten Mitarbeitern den Aufstieg der letzten Jahre fortsetzen wird, und dass Sie sich Tag für Tag freuen werden, sowohl eines der Rädchen als auch Nutznießer dieses Erfolgs zu sein.
Noch einmal: Frohe Weihnachten Ihnen allen.
Der dreifachen Krise, die den Beginn ihrer Übernahme von Blancpain geprägt hatte, folgten in ihrer weiteren Tätigkeit andere große Herausforderungen. Der Zweite Weltkrieg belastete die Branche zweifellos schwer, doch noch weit schlimmer waren die weltweiten kommerziellen Rückschläge der späten sechziger Jahre aufgrund der Konkurrenz Asiens und der Quarzkrise, die die gesamte Schweizer Uhrenindustrie erschütterte. Betty und Jean-Jacques leiteten darum die Integration von Blancpain in die SSIH (Société Suisse pour l’Industrie Horlogère) in die Wege, der auch Omega, Nouvelle Lemania und Tissot angehörten. Jedes Unternehmen behielt seine eigene Identität, man bündelte jedoch die Kräfte, um effizienter produzieren zu können. Selbstverständlich war Betty im Verwaltungsrat dieser neuen Gesellschaft. Sie organisierte weiterhin Treffen, am liebsten, wenn sie in ihrem Haus bei Lausanne oder an der Côte d’Azur stattfanden. In der SSIH übernahm Blancpain eine führende Rolle als Uhrwerklieferant für die beteiligten Marken.
Eine ebenso beeindruckende Persönlichkeit, wie sie an der Spitze von Blancpain und später in der SSIH war, wurde Betty Fiechter in der Welt der Kunst und in der Öffentlichkeit, sowohl in Lausanne als auch in Cagnes-sur-Mer, auf ihren Spaziergängen oder beim Besuch der besten Restaurants. Ihr Geschmack war anspruchsvoll, ob sie Aubusson-Teppiche, Bilder von Picasso und Renoir oder alte Ikonen sammelte, von denen sie einige ihrer Großfamilie schenkte. In den Straßen von Lausanne fiel sie durch ihren Hang zu raffinierten Kleidern und Schmuckstücken auf, die ihren von einer Spur Exzentrik garnierten künstlerischen Leidenschaften entsprachen. Sie war immer elegant gekleidet, mit Pelzen im Winter und Juwelen geschmückt, und zu ihrer Garderobe gehörten auch rosafarbene Pantoffeln, da sie unter chronischen Fußschmerzen litt.
Betty verstarb Anfang September 1971 in Biel. Vor ihrem Ableben hatte sie ihrem Großneffen Jean-Marie einen Glückwunsch zu seinem Geburtstag Ende des Monats geschrieben, den er nach ihrem Tod erhielt. Ihrem Heimatort Villeret vermachte sie eine große Parzelle an der Rue des Planches als bleibenden Raum für Freizeit und Erholung. Dort befindet sich auch ihr Denkmal.
Nur wenige Frauen konnten vergleichbare Leistungen vorweisen. Zu einer Zeit, als die Frauen in der Schweizer Geschäftswelt noch wenig Einfluss hatten, war sie nicht nur erfolgreich, sie überwand dabei auch gewaltige Herausforderungen. Sie fand ihren eigenen Weg, der tiefen Respekt vor der Tradition mit der Moderne verband. Sie war wirklich eine bedeutende Frau, deren Vermächtnis für Blancpain bis heute lebenswichtig ist.