Kapitel 5
Auf den Spuren eines authentischen Uhrmacherwerkzeugs mit vielen Tugenden.
Im Vallée de Joux könnte man sich fast in ein Märchen der Gebrüder Grimm versetzt fühlen. Überquert man einen der von Tannenwäldern gesäumten Pässe, die zu diesem Tal führen, das untrennbar mit der Schweizer Uhrmacherkunst verbunden ist, betritt man eine andere Welt. Tatsächlich wird das Jouxtal oft als Wiege der Prestige-Uhrmacherei bezeichnet. Fällt der Name dieser idyllischen Region, denkt man sofort an das Ticken von Uhren und die Inspiration, die von der allgegenwärtigen Ruhe dieser Gegend ausgeht. Doch jenseits dessen, was man gemeinhin über dieses Jurahochtal weiß, bleibt die Region voller Überraschungen. Liebhaber authentischer Schweizer Spezialitäten wissen, dass hier köstliche Käsesorten wie der Vacherin Mont d’Or und der Gruyère d’Alpage produziert werden. Wer sich gerne an der frischen Luft bewegt, schätzt die vielen markierten Pfade und Wanderwege. Wo Kühe grasen und Sportbegeisterte trainieren, gedeiht auch eine für viele unbekannte Wunderpflanze: der Gelbe Enzian. Die Uhrmacher von Blancpain wissen jedoch um seine Qualitäten und schätzen ihn als echtes Uhrmacherwerkzeug.
In einer bukolischen Umgebung mit Blick auf das Dorf Le Brassus befindet sich die Manufaktur von Blancpain, die sich mit traditioneller Handwerkskunst der Kreation anspruchsvoller uhrmacherischer Komplikationen widmet. Ihr liebevoller Spitzname La Ferme erinnert an den Bauernhof von Jehan-Jacques Blancpain in Villeret, über dem der Markengründer 1735 seine Uhrmacherwerkstatt einrichtete. In seinen Fußstapfen hat eine Dynastie von Uhrmachern ihr Leben der Kunst und Mechanik der Zeit gewidmet. Für spezialisierte Handwerker mit einem ausgeprägten Sinn für feine Verarbeitung, die als „Bauern-Uhrmacher“ bekannt waren, wurde die Fertigung von Uhren zur echten Berufung. Heute wird diese schweizerische Tradition mit gleicher Leidenschaft und sorgfältiger Arbeit weiter gepflegt. Die Uhrmacher von Blancpain bewahren das Erbe ihrer Vorfahren und nutzen wie sie die Ressourcen ihrer natürlichen Umgebung für ihre Werkzeuge. Auf ihren Werkbänken findet man neben den Feilen, Korneisen, Rollierfeilen, Meißeln und Sticheln, die für die Endbearbeitung und Verzierung der Uhrenteile verwendet werden, auch ein Werkzeug aus dem Holz des Gelben Enzians.
Diese in den mittel- und südeuropäischen Gebirgen häufige Enzianart ist eine robuste Staude, deren Stängel im Sommer bis über einen Meter hoch werden können. In dieser Jahreszeit belebt er mit seinen goldgelben, radförmig in einer fünfzipfeligen Krone angeordneten Blütensternen die Wiesen des Vallée de Joux. Er gilt seit dem Altertum als medizinische Wunderpflanze und soll unzählige Heilkräfte besitzen, weshalb er auch „Gelbe Fee“ genannt wird. Dem Gelben Enzian (lat. Gentiana lutea) schreibt man verdauungsfördernde, übelkeit- und brechreizunterdrückende, harntreibende, antiseptische, den Speichelfluss anregende, fiebersenkende und magenberuhigende Eigenschaften zu, um nur einige zu nennen. Außerdem wird die Pflanze seit mehreren Jahrhunderten von Destillateuren geschätzt. Aus ihren Pfahlwurzeln, die man normalerweise im Herbst ausgräbt, wird das Amarogentin gewonnen, der bitterste Stoff der Natur, der gleichzeitig das ebenso magische wie gesunde Element des Enzianlikörs ist.
Die Uhrmacher von Blancpain ernten den Enzian im Herbst. Sie machen jedoch daraus weder einen Heilkräutertee noch einen Aperitif oder Digestif, so verlockend das auch sein mag. Was sie am Enzian interessiert, sind seine geschmeidigen, widerstandsfähigen und dichten Stängel, dessen Mark eine so feine Körnung aufweist, dass es sich hervorragend zum Polieren von Uhrenteilen eignet. Die Wurzeln werden bei dieser Ernte nicht ausgegraben, so dass die Enzianpflanzen, deren Holz man entnimmt, wieder austreiben können. Auf diese Weise beweisen die Uhrmacher von Blancpain ihren großen Respekt für diese Ressource und die Natur.
Die Exkursion durch die Hochweiden auf der Suche nach dem Gelben Enzian beginnt in der Nähe der Blancpain-Werkstatt La Ferme in Le Brassus. Wenn die Uhrmacher die für ihre Zwecke am besten geeigneten Enziane ausgewählt haben, schneiden sie die Stängel mit einer kleinen Handsäge an der Basis ab. Dann trennt man ihre Spitze mit den obersten Blütenbüscheln sowie die Blätter ab und bindet die Stängel zu Bündeln zusammen, die für mehrere Tage an einem trockenen Ort gelagert werden.
Die so präparierten Enzianstängel bearbeiten die Blancpain-Uhrmacher so, dass sie sie an ihren Werkbänken verwenden können. Mit der Handsäge schneiden sie auf einer Gehrungslade 23 cm lange Stücke zu, die sie der Länge nach in drei Teile spalten.
Aus einem Enzianstängel lassen sich in der Regel bis zu sechs Holzstücke gewinnen. Das derart vorbereitete Enzianholz wird auf einer Seite scharf zugespitzt. Dieses Ende bestreicht man mit einer winzigen Menge Polierpaste, Diamantine genannt, vermischt mit einem Tropfen ätherischem Öl, oft Lavendel- oder Süßmandelöl. Jeder Handwerker hat da seine Geheimrezepte, die auf der eigenen Erfahrung und dem überlieferten Know-how beruhen. Die Zutaten passt er nach eigenem Ermessen an, abhängig von vielen Faktoren wie der Qualität des Enzians und der Diamantpolierpaste oder der Luftfeuchtigkeit. Stimmen alle Parameter, kann die Arbeit des Uhrmachers beginnen.
Enzianholz wird für das Abschrägen verwendet, einem der wichtigsten Oberflächendekors edler mechanischer Uhrwerke. Diese Technik besteht darin, die Formen der Uhrwerkkomponenten – insbesondere der Platinen, Brücken und Schwingmassen aus Edelmetall – durch Glätten der scharfen Kanten in einem definierten Winkel von meist 45 Grad hervorzuheben. So entsteht ein Lichterspiel, das die Schönheit der mechanischen Uhrwerke offenbart und verstärkt. Die aufeinanderstoßenden Winkel der Teile werden in der Regel nach außen oder innen abgerundet. Der letztere Schliff ist am schwierigsten und kann nur von Hand realisiert werden. Unabhängig von der Art der Winkel wählt die Manufaktur Blancpain für ihre kostbarsten Zeitmesser die handwerkliche Methode.
Das Abschrägen von Hand ist eine mühsame Aufgabe, die viel Geschicklichkeit und Zeit erfordert. Es gehört zu den aufwendigsten Feinarbeiten in der Uhrmacherei und dauert bei einigen Komponenten mehr als ein Dutzend Stunden. Dabei beginnt man mit dem Ausbilden der Winkel mit verschiedenen Feilen, bevor man allfällige Spuren auf den blanken Teilen entfernt und die Oberflächen durch Schleifwerkzeuge mit unterschiedlichen Körnungsgraden glättet und vereinheitlicht. Der letzte Schritt ist das Polieren, zunächst mit einer Schmirgelfeile, die mit Schleifpapier belegt ist, dann mit Enzianholz und der Diamantinepaste. Mit der Spitze des Werkzeugs werden die Ecken und Kanten der Bauteile lange und sorgfältig poliert, bis sie den gewünschten Glanz erreichen. Enzianholz sorgt für ein Polierniveau von außergewöhnlicher Qualität, das keine Maschine erreichen kann.
In den Blancpain-Werkstätten in La Ferme in Le Brassus regiert die menschliche Hand, genau wie bei den ersten Uhrmachergenerationen. Und wenn die Uhrmacher nicht nur die Zeitmesser, sondern auch ihre Werkzeuge herstellen, bekommt das Wort Manufaktur (aus dem Lateinischen für „von Hand machen“) seine volle Bedeutung.